Aus Wildfangs Kinderjahren

Eine Jungmädchengeschichte von Angelica Harten

Aus Wildfangs Kinderjahren


Ausschnitt:
Gretchen war wieder niedergeschlagen; da wollte die Großmama eine Geschichte aus dem alten Buche erzählen. Die Kinder saßen bald wieder an dem gewohnten Plätzchen im Erker, und Großmütterchen begann:

Swanhilde

Es war um das Jahr 750 nach Christi Geburt, zur Zeit der Sonnenwende. Der Tag ging zur Rüste; die letzten Sonnenstrahlen brachen schräg gleich rotglühenden Lanzen durch des Urwalds vielverschlungenes Geäst und wandelten die Dämmerung der grünen Wildnis in eine goldfunkelnde Helle.
Feierliche Stille herrschte ringsum. Nur eine Drossel flötete ihr Abendlied aus dem Wipfel der heiligen Eiche; die ein paar verlassene Opfersteine auf einsamer Waldlichtung überschattete. Die meisten anderen Vöglein schliefen schon in ihren Nestern und das vierfüßige Waldgetier lag, auf die späte Dämmerung wartend, noch in Höhlen und Schlupfwinkeln verborgen. Da knackt es in den Zweigen; unhörbar gleiten hastige Schritte über den Moosboden und eine Frauenstimme ruft laut und ängstlich: „Swanhilde, Hilde, Hilde!“ Keine Antwort.
Jetzt steht die Gestalt auf der Lichtung, eine große, breitschultrige Frau im groben Linnengewande der Dienerinnen. Sie späht sorgenvoll umher; dann legt sie beide Hände hohl zusammengebogen vor den Mund und beginnt von neuem zu rufen.
Die Drossel hat ihren Gesang jäh unterbrochen und ist mit scheuem Flügelschlag im Gebüsch verschwunden; jedoch aus dem Waldinnern heraus ertönt jetzt eine andere frohe Weise, aber nicht von Vogelstimmen, sondern aus Kindermund. „Beim lichten Balder!“ murmelte die Alte überrascht, während sie mit ihren riesenhaften, in Sandalen steckenden Füßen tapfer durch das niedere Dorngestrüpp und Geranke am Boden stapft. „Beim lichten Morgenstern! wollt ich sagen. Steckt die wilde Katze wirklich da oben im Eichenwipfel!“
„Komm herab, Swanhilde, komm herab, Kindchen, du brichst sonst all deine feinen Knöchlein und die alte Wendelgard muss dich gleich hier begraben mitten im öden, wilden Wald!“
“Rufe doch nicht so überlaut! Du weckst ja den bösen Isegrim und Meister Petz in ihren Schluchten mit deinem Geschrei!“ antwortete eine helle Stimme unmutig aus dem dichten Blattgewirre einer Eiche, und ein glühendes Kindergesicht, das von lichtem Haar wie von dem zarten Gespinste eines Goldschleiers umgeben war, schaute vorwurfsvoll hinab.
„Warum störst du mich, Wendel?“ fuhr das Jüngferchen im Grünen fort. „Ich habe eben das Nest des Eichkätzchens gefunden; es sind junge Tierlein darin, o, so zarte Tierlein, nicht viel größer als die grauen Mäuschen, die hinter deinem Herd wohnen!“
„Komm herab, Swanhilde, die Abendnebel werden gleich steigen, und die Frau Mutter ängstigt sich deinetwegen! Du wirst noch Arme und Beine brechen!“ wiederholte sie eindringlich und schaute hilflos an dem Baum in die Höhe.
„Ei, dann macht die weise Frau Idis in der Wolfschlucht sie wieder heil!“ rief das Kind übermütig, während es sich behände von Ast zu Ast schwang und vom untersten der Alten gerade in die geöffneten Arme sprang.
„Ich weiß noch das Ende ihres Zaubersprüchleins auswendig!“ Sie hockte unter der Eiche nieder, schlug ihr Röcklein wie eine Kapuze über den Kopf und murmelte mit dumpfer Stimme, während sie sich langsam hin und her wiegte:

„Fleisch zu Fleische soll sich fügen,
Bein zu Bein soll sich regen.
Das ist…“

„Donars Hammersegen!“ wollte sie sagen, aber Wendelgard hielt ihr mit einer Gebärde des Entsetzens eine ihrer großen Hände vor den Mund, die aber gleich das ganze Gesichtchen verdeckte und rief, während sie das Mädchen in die Höhe zerrte: „Sprich nicht weiter, Swanhilde, sprich nicht weiter, du weißt, wie traurig die Mutter allemal ist, wenn wir die verbotenen Namen der alten Götter nennen, da wir doch dem Herrn Jesus Christus Heerbann gelobt haben in die Hand des frommen Vaters Winfried!“

Swanhilde

„Ich will die liebe Mutter nicht betrüben“, sagte Swanhilde, während sie, um ihre Hände zu waschen, vor dem Waldbrünnlein niederkniete, das bei der „heiligen Eiche“ vorbeirieselte. „Aus dem starken Donar und dem einäugigen Asenvater mache ich mir auch gar nichts; aber es wäre doch gar zu schön, wenn man unten auf dem Grund des Brünnleins die Frau Holle sehen könnte, wie sie die lieben kleinen Kinder hütet auf grünen Blumenwiesen. Ei, wie wollt’ ich sie bitten, mir ein Schwesterlein oder Brüderlein zu schicken, damit ich nicht so allein sein und die Eichkätzchen und Rehlein im wilden Wald zu Gespielen aufsuchen muss!“
„Du wirst bald viel traute Spielgenossen haben, Hilde, die artigen Mägdlein aus der Klosterschule von Bischofsheim, die die fromme Frau Lioba, unseres Herrn Winfrieds Nichte, hütet und aufzieht für Gottes Paradiesgarten!“
„Aber ich will nicht zu der frommen Frau Lioba, ich will nicht mit den artigen Mägdlein spielen, die einhergehen wie die Geschleierten, ich will nicht, ich will nicht! Lieber laufe ich fort in den wilden Wald, so weit mich meine Füße tragen!“ schrie das Mädchen, und seine dunkelblauen Augen blitzten in heftigem Zorn und seine Füße stampften den Boden.
„O Swanhilde, wenn dich die kranke Mutter sähe, das Herz im Leibe müsste ihr bluten!“
„Ach, meine Mutter, meine Mutter! Das ist es ja. Ich will nicht von ihr gehen; ich muss ja sterben, wenn ich nicht bei ihr sein kann“, rief das Kind und brach in heftiges Weinen aus. Dann eilte es schnellfüßig wie ein Reh davon und war bald den Blicken der braven Wendelgard entschwunden. Diese stapfte mit schwerem Herzen hinterdrein, der heimatlichen Hütte zu.