Heimatlos


Eine Skizze von R. Fabri de Fabris = Angelika Harten

In: Der Gral. Monatschrift für schöne Literatur.
15. Februar 1907 1. Jahrgang, 5. Heft

Die Berge umstehen das Hochmoor in ewigem Schweigen. Und doch hat es eine Zeit gegeben – aber sie ist älter als die Tage, die der Mensch zählt, älter als die graue Sage und das goldene Märchen – da war lautes, gewaltiges, furchtbares Leben in ihnen. Da schreckte das Donnerwort ihres Mundes die Erde, und das Feuerbanner ihrer jugendlichen Kraft schwang sich zum Himmel auf.
Heute liegen sie starr und still da, wie Hüter furchtbarer Geheimnisse. Sie spiegeln sich in den blauen Wassern der Maare und umfangen morgens und abends mit den Fittichen ihrer Riesenschatten das graue, tückische Moor. Wo nicht der Hochwald stolz emporsteigt an ihren Flanken, starrt öde Steinwüste und struppiger Heidegrund. Nur kärglich, wie dünnes, durchlöchertes Gewand der Armut, wie armselige, mattfarbene Teppiche hängen die Äckerlein der Leute, die da wohnen, an den windumtosten Höhen und in den sonnenarmen Mulden. Ein gottesarmes Geschlecht haust da. Weltfremd seit der Urväter Zeiten bis in unsere Tage, im ganzen gleichmütig und genügsam, zuweilen aber auch stumpf und verdrossen geworden in der Not des harten Lebens.
Der frühe Abend eines Späthersttages ist hereingebrochen. Dräuenden Ungeheuern gleich ragen die Berge ins Dunkel. Wo schwache Lichtlein blinzeln, liegen in die Falten und Mulden eingeschmiegt ein paar armselige Dörfer. Am Ende der Gemeinde Dornscheidt bricht ein Lichtschein aus den kleinen, vergitterten Fensterscheiben einer windschiefen, strohgedeckten Hütte. Der einzige Raum, den sie enthält, ist Gefängnis und Leichenkammer zugleich, und das schwache Leuchten kommt von dem Armseelenlämpchen her. Das steht am Fuß einer rohgezimmerten, schwarz geteerten Kiste, die ein Sarg sein soll. Im Sarge, der noch nicht geschlossen ist, liegt eine junge Frau. Ihr schmales Gesicht zeigt einen wehmütig ergebenen Ausdruck. Gar zu tief hat die Erdensorge ihre Schrift in die jugendlichen Züge gegraben. Selbst die Majestät des Todes hat sie nicht zu verwischen vermocht.
Um den Sarg knien ein paar ungleiche Gestalten. Die eine, zusammengekauert, mit verrunzeltem Gesicht, grauem Haar und einer schiefen Schulter ist das „Dodekättche“, die Leichendienerin um Gotteslohn. Sie hat die zwei Kinder der toten Försterwitwe, den zehnjährigen Toni und das dreijährige Mätteschen, zum letzten Gebet an die Leiche der Mutter geholt. Aber nur sie und der Toni beten. Das Mätteschen ist eingeschlafen. Sein blondes Köpfchen lehnt an dem Holzschragen, der die armselige Ruhestatt der Mutter trägt. Das letzte Gesetz des Rosenkranzes und das „Aus der Tiefe [rufe ich zu dir]“ sind gesprochen. Die kleine Verwachsene erhebt sich mühsam.
„Nun kommt, Kinder, es ist Zeit schlafen zu gehen. Dir (Ihr) könnt heut’ nacht noch bei mir bleiwe. Morge früh müsse wir zeitig parat sein. Um sechs Uhren bringen sie die Mamma sellig nach Hellerath auf dän Dodekirchhoff.“ Jetzt erst sieht sie, dass der Kleine eingeschlafen ist.
„Dat ärem Könd!“ murmelt sie, und zart wie eine Mutter hebt sie das Mätteschen auf und trägt es, unter der umgewohnten Last keuchend, in ihr Altjungfernstübchen im Müllerhaus da unten am Bach. –
Die Witwe des Försters ist begraben auf dem Friedhof von Hellerath. Die Gemeinde von Dornscheid ist so arm, dass sie nicht mal einen eigenen Friedhof hat, noch weniger Kirche und Schule. Soeben verlässt der Pfarrer mit dem Gemeindevorsteher von Dornscheidt und Toni den Kirchhof.
„Und die Kinder, Cremer, was wird nun aus ihnen?“
„Jao, Här Hochwürden, mir han gedaach, die Könner bleiwen am besten bei der Schwester von ihrem Vatter sellig zu Hillerscheid überm Berg. Ihr wisst jao, Här, ons Gemeind es arm.“
„Ja, ja“, unterbricht ihn der Pfarrer, und zum Toni sagt er; „Wenn es euch nicht gut gehen sollte in Hillerscheidt, so komm nur mal zu mir, Toni. Wir wollen dann weiter überlegen.“ Der Toni nickt. Er kann nicht sprechen. Da ist eine Faust, die er doch nicht sehen kann, die drückt ihm die Kehle zusammen. Er hätte sich am liebsten auf die braune Erde geworfen, unter der seine Mutter lag und laut hinausgeweint. Aber er schämte sich vor dem Herrn Pastor und dem Vorsteher. Schweigend, das Herz voll schwerer Trauer, kehrte er an der Hand des Mannes nach Dornscheidt zurück. Da saß schon das Mätteschen in seinen Sonntagskleidern in der Küche des Vorstehers. Die Bäuerin stand bei ihm und hatte ihm ein großes Weckbutterbrot gemacht, und das Mätteschen strahlte vor Vergnügen. Der Toni sollte auch essen. Aber obschon er hungrig war, musste er jeden Bissen hinunterwürgen.
Kurz vor zehn Uhr verließen die Kinder ihr Heimatdorf. „Kann der Kleine auch die zwei Stunden gehen?“ hatte die Frau besorgt gefragt. Das Gewissen rührt sich in ihr. Es war doch hart, dass man die armen Kinder so mutterseelenallein ziehen lassen musste. Aber man war ja selbst nicht reich und hatte das Haus voller Kinder.
„Der Weg über den Totenofen ist steil, und das Moor ist tückisch. Gibst du auch gut Acht, Toni?“ Der Toni hatte viel Mut: das Mätteschen laufe gut, und wenn es müde würde, wolle er es tragen. Den Weg durchs Moor kenne er. Und so gingen die Kinder. Die Mutterhände, die sie hätten zurückhalten können, lagen sechs Fuß unter der Erde. Aber die Seele der toten Mutter sehnte sich nach ihren Kindern, und Mutterliebe hat Gewalt bei Gott. Das Mätteschen hüpfte fröhlich an der Hand des Bruders. Die Sonne schien so schön; es ging über lauter Wege, auf denen es noch nie gewesen war, es sah Blumen, die es noch nie gesehen hatte. Aber der Toni warnte es, die Blumen zu pflücken. „Die wachsen im Moor“, sagte er, „und wer ohne Weg durchs Moor geht, muss versinken.“

Verlandetes „Hitsche Määrchen“ (bei Gillenfeld)
Verlandetes „Hitsche Määrchen“ (bei Gillenfeld) Verlandetes „Hitsche Määrchen“ (bei Gillenfeld)

Mittag war längst vorbei, als die Kinder hungrig und übermüdet bei der Tante in Hillerscheidt ankamen. Zuletzt hatte der Toni das Mätteschen manchmal tragen müssen.
Die Tante zog ein schiefes Gesicht, als die Waisen ihres Bruders in ihr armes Stübchen traten. Mürrisch wies sie auf die Ofenbank. „Wollt dir ons besuche, Könner?“ fragte sie. „Nein, Tant’ Jännche, immer hie bleiwe solle mir, hat der Vorsteher gesagt.“ Dann fügte der Junge leise und stockend hinzu: „Die Modder is gestorwe.“ Wie versteinert steht die Frau. Langsam dämmert ihr das Verstehen. Dann lacht sie grimmig auf: „Hie bleiwen! Dadervon kann kein Red nit sein. Dat Gott erbarm! Wo mir selwst an manchem Middag neist (nichts) z’esse han. Sechs Könner und keins, dat verdient. Geht nur, woher dir gekommen seid, die Gemein muss für eich sorge.“
Mit erschrockenem Gesicht erhob sich Toni und wollte auch das Brüderchen von dem Sitz herunterziehen. Aber Mätteschen wehrte sich: „Ech sein mied un will z’esse han!“
„’nen Kaffee sollt dir han, dann maacht widder uff haim an.“ Diesmal war es nur das Mätteschen, das aß und trank. Der Toni konnte nichts essen. Auch die Müdigkeit spürte er nun nicht mehr.
Noch stand die Sonne tief im Westen, als die Kinder das Dorf Hillerscheidt verließen. Bald waren sie im düsteren Wald des Totenofens. Das Mätteschen hatte anfangs wunderst was zu sagen und zu fragen; allmählich aber ward es stille. Und als nach Sonnenuntergang die Abendschatten hervorkamen und der Wald dunkler und dunkler wurde, fing es an zu weinen vor Angst und Müdigkeit. Da musste der Toni es wieder ein Weilchen tragen. Endlich war der Wald zu Ende. Sie standen jetzt auf der öden Steinhalde, die sich tief hinunter zum Totenmoor zieht. Nun war es ganz dunkel geworden, und fast bei jedem Schritt strauchelte und rutschte der Kleine auf dem mit losen Lavabrocken und Bimssteinen bestreuten Wege.
„Wart dau, Mätteschen, ech well dich ens Huckepack dragen!“ Der Kleine klatschte vor Freude in die Händchen, wie Toni jetzt wie ein wildes Füllen mit ihm bergab sprang. Freilich klopfte dem armen Toni das Herz gewaltig, die Knie zitterten ihm und trotz der Abendkälte brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Aber bald waren sie ja daheim!
Da hinten schienen schon die ersten Lichtchen. So nahe schon! Der Toni war ganz verwundert. Das hätte er nicht gedacht. Sonst hatte es doch wohl noch eine halbe Stunde gedauert, ehe man vom Fuß des Totenofens das erste Haus von Dornscheidt erreichte. Aber da waren deutlich die zwei Lichtchen unter den großen, schwarzen Bäumen, die in Klumpen zusammenstanden. Das konnte doch nichts anders sein als das Haus des Hufschmieds, das unter den Erlen hart am Weg liegt. Wie ihm die Zeit vergangen war! Schon beinahe daheim! Wie dunkel es aber auch war! Nicht Mond noch Stern am Himmel, nichts als schwere, schwarze Wolken. Nicht einen Schritt konnte man vor sich sehen.
„Springen, Toni! Springen!“ bat das Brüderchen. Da machte Toni mit letzter Anstrengung noch ein paar weite Sätze. Merkwürdig, es ging auf einmal viel besser! Der Boden war so weich und glatt, gar nicht mehr steinig. Aber, o Gott, da fängt die Erde plötzlich unter ihm an zu wanken und zu schaukeln. Er ist im Moor! In der Angst und Verwirrung springt er vorwärts statt zurück, immer tiefer ins Bodenlose hinein.
„Ach, Mätteschen, mir sein im Moor!“ Zitternd vor Todesangst blieb das arme Kind stehen, die Last des Brüderchens auf dem Rücken. Nicht lange stand er so. Keine drei Herzschläge lang. Dann sank er und sank er, und sein Herz schlug wild vor Sterbensnot, und sein Hilfeschreien hallte über das weite Moor. Aber niemand und nichts antworteten. Die Lichtchen unter den Bäumen waren nun auch nicht mehr da. Das Sumpfwasser warf gurgelnde Blasen in die Höhe und ein paar Moorhühner flogen aufgeschreckt mit schwerem Flügelschlag davon. „Hollt ons met! Hollt ons met!“ schrie der Knabe wirr vor Todesnot.
Nun war er schon bis an die Brust eingesunken; das Atmen wurde schwerer und schwerer. Mätteschen hing auch schon bald im Moor. Nur mit äußerster Anstrengung hielt Toni das Brüderchen fest, das sich in krampfhaften Zuckungen und wilden Schreien vor dem Tode in der Tiefe wehrte und nur umso schneller hinabsank. Weiße Nebel flatterten durch die Öde hin. Nein, es war die Mutter im Totenkleid, so wie sie drei Tage im Sarge gelegen hatte. Sie winkte mit den weißen Händen. Horch, sie sang! Wie ein schönes Lied klang es in Tonis Ohren. Nein, das war nicht das Rauschen des Windes in den Waldbäumen. Das war das Lied der Mutter. Toni kannte es so gut. Sie hatte es ja immer beim Einschläfern der Kleinen gesungen, die alle gestorben waren, für das Gretchen und das Lieschen und zuletzt den kleinen Paul:
„Es saß bei bunten Blumen
Auf einem Grab ein Kind“…
Toni hörte es ganz genau. Und da waren ja auch die gestorbenen Kinder bei der lieben Mutter. Gerade wie die Kinder in dem schönen Liede, die aus dem Himmel zum Schwesterchen spielen kamen.
„Modder! Modder!“ schrie das Kind noch einmal gurgelnd mit erstickter Stimme auf. Dann ward es still. Mehr und mehr Blasen sprangen mit platzendem Geräusch aus dem schwarzen Moorgrund; aber die Stelle, wo die Kinder gestanden hatten, war leer.
Nie und nirgends kam mehr Kunde von den Kindern der Försterwitwe. Die Berge, die hätten erzählen können, standen in starrem Schweigen wie immer, und das weite Moor, das schon so manchem Heimatlosen zur letzten Heimat geworden, lag stumm da. Stumm wie immer. Bis zum Tag aller Tage, dem Auferstehungstag der Toten.