In russischer Kriegsgefangenschaft

Von Friedrich Jakob Schruff, bearbeitet von Sophie Lange 1995

Vorwort

Am 27. 12 1987 verstarb F. J. Schruff.

Friedrich Jakob Schruff wurde am 11. April 1913 in Nettersheim/Eifel geboren. Er wuchs in einer großen, tief religiösen Familie und in einer intakten Dorfgemeinschaft auf. Nach Abschluss der Volksschule erlernte er das Bäckerhandwerk. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, war er 26 Jahre alt. Er wurde als Soldat eingezogen, war zuerst in Frankreich und in Belgien stationiert und kam 1942 an die russische Front. Dort geriet er in Gefangenschaft und wurde schließlich nach Sibirien in ein Arbeitslager gebracht. Im November 1945 kehrte er in die Heimat zurück. Seine tiefe Liebe zur Eifel hatte sich in der Ferne noch verstärkt. So war es nicht verwunderlich, dass er nach Kriegsende seine ganze Kraft für den Erhalt der archäologischen Funde in seiner Heimat einsetzte. Als Heimatforscher machte er sich weit über die Grenzen seines Heimatortes einen Namen (s. Nachruf am Ende des Berichtes).

Auf 100 handgeschriebenen Seiten hat Friedrich Jakob Schruff sofort nach seiner Heimkehr seine schrecklichen Erlebnisse in russischer Kriegsgefangenschaft festgehalten. Doch er musste erfahren, dass nach den harten Kriegs- und Nachkriegsjahren niemand mehr an die Schrecken des Hitlerregimes erinnert werden wollte. So blieb das Manuskript unveröffentlicht.

Am 27. 12 1987 verstarb F. J. Schruff. Erst Jahre danach interessierte man sich allgemein für seine Aufzeichnungen. Da ich aus vielen Gesprächen mit Herrn Schruff wusste, wie sehr es ihm am Herzen lag, seine Erinnerungen als Mahnung zum Frieden einem größeren Publikum zugänglich zu machen, habe ich das Manuskript bearbeitet und 1995 – 50 Jahre nach seiner Heimkehr - in einem kleinen Buch herausgegeben. (Inzwischen vergriffen)

Nettersheim, im November 1995

Sophie Lange

Aufzeichnungen von Friedrich Jakob Schruff in den Jahren 1945/46

Wo sind sie geblieben?

So fragt man sich immer wieder in den Zeitungen und bei den Behörden. Wo sind sie geblieben, all die vielen Soldaten, die noch vermisst sind, die noch in russischer Kriegsgefangenschaft schmachten sollen? Manche Mutter ist noch immer in Ungewissheit über ihren lieben Sohn; viele Frauen sehnen sich noch nach ihren Männern und warten vergebens auf ein Lebenszeichen, viele Kinder müssen den Vater noch entbehren und werden ihn nie wiedersehen. Gewiss leiden in russischem Gewahrsam noch immer Gefangene, die der Russe aus irgendwelchen Gründen nicht freilässt. Aber viele, viele Tausende werden niemals mehr in die Heimat zurückkehren. Sie erlitten in russischer oder sibirischer Gefangenschaft einen tragischen Tod. Ihre Leiden waren unermesslich. Sie starben als Märtyrer für Deutschland, für ihre Heimat, viele aber auch für ihre religiöse Überzeugung.

Immer wieder fragte ich mich: Soll ich der Öffentlichkeit mitteilen, was ich selbst erlebte, was ich sah von all den Tragödien, die sich abspielten, deren Zeuge ich war? Heute, wo noch so viel Ungewissheit herrscht über die russischen Kriegsgefangenen, und man sich immer wieder fragt: „Wo sind sie geblieben?“, möchte ich ein kleines Licht bringen in dieses dunkle Geschichtskapitel, aber auch dem deutschen Volk eine Schilderung geben, wie seine Söhne litten und starben.

Nun will ich berichten, getreu und wahrheitsgemäß, und mancher Heimkehrer, der Ähnliches erlebte, wird mir Recht geben.

Von Belgien zur russischen Front

Die 306. Division, die in Belgien an der Küste zur Besatzung war, wurde zur Entlastung der sechsten Armee bei Stalingrad nach Russland versetzt. Schwer lastete auf allen Gemütern das Ungewisse, das uns bevorstand, tobte doch der Kampf bei Stalingrad unerbittlich, bis ins Unermessliche. Wir erhielten die letzten Instruktionen und Impfungen. Unsere Einheit Pionier Bataillon 306 wurde auf Kriegsstärke und Einsatzfähigkeit ausgerüstet und in der ersten Novemberhälfte 1942 in Gent (Belgien) verladen.

Auf dem Transport herrschte trübe Stimmung in den Waggons. Man gedachte immer wieder der schönen Tage der Besatzung in Belgien und Frankreich. Man war dort im Allgemeinen zu sehr verweichlicht, lebte man doch wie Gott in Frankreich. Für mich selbst war das alles etwas Abenteuerliches, und ich freute mich, Land und Leute des Ostens kennen zu lernen, aber auch mitkämpfen zu dürfen und nicht tatenlos zu sein. Ich machte meinen Kameraden, die meistens Frau und Kinder hatten, immer wieder Mut.

Doch in Warschau ereilte uns das erste Missgeschick. Kamerad Sch. aus unserem Waggon wurde fahnenflüchtig und verschwand bei einem längeren Aufenthalt in Warschau mit dem Soldbuch unseres Gruppenführers; er wurde nicht mehr gesehen. Einige Tage später wurde er in Abwesenheit wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt.

In Brest-Litowsk (polnische Grenzstation an der Strecke Warschau-Moskau) wurde unsere Stimmung nicht besser, hing doch fast an jedem Mast ein Erhängter. Auch boten die Transporte mit Gefangenen ein trauriges Bild. Wir mussten in Brest-Litowsk warten, weil ein Transport mit SS-Verfügungstruppen vor unseren Zug gesetzt werden musste; etwas später fielen diese Soldaten einem Partisanenangriff zum Opfer. Auch unser Transport wurde wiederholt von Partisanen angegriffen, doch glücklicherweise ohne Verluste.

Nun ging die Fahrt weiter hinein ins Innere Russlands. In einem Ort in der Nähe der Front von Stalingrad trafen viele Transporte mit Verwundeten ein, die uns die grauenvollen Kämpfe der deutschen Truppen in der heiß umkämpften Stadt schilderten. Stalingrad war schon fast ganz vom Feinde eingeschlossen. Es fehlte überall an Pionieren. Am linken Flügel der Front von Stalingrad, im großen Don-Bogen, waren die Rumänen größtenteils übergelaufen. Durch diese Lücke wälzte sich der motorisierte russische Vormarsch, um die Einkesselung zu beenden.

Es ist Mitte Dezember 1942. Russland gleicht einer trostlosen Eiswüste. Die Dörfer liegen fast im Schnee begraben. Die Winterdecke hüllt auch die Heldengräber ein, deren wir viele sehen. Wir wurden in aller Eile in einem größeren Ort ausgeladen, der jede Nacht von russischen Fliegern angegriffen wurde. Dieser Ort hieß Morosowskaja und war etwa 80 km von Stalingrad entfernt.

Noch am selben Tag mussten wir (der erste Zug der ersten Kompanie Feldpost Nr. 26005) auf Rädern durch die vereiste Landschaft fahren. An der Rollstraße vorbei lagen Pferdekadaver. Wir kamen durch einige Ortschaften, die überfüllt waren von Flüchtlingen und versprengten Truppen. Die Häuser der Ortschaften, meistens mit Schilf gedeckte Lehmhütten, boten ein Bild der Armut und des Jammers. Es gab meistens nur einen großen Wohnraum. Dieser bot fast überall dasselbe Bild: Schmutz, Ungeziefer und Gestank, vermischt mit beißendem Qualm. Oft hausten Mensch und Tier zusammen.

In einer solchen Ortschaft machten wir Quartier. Die Bevölkerung war sehr freundlich. Die Menschen boten uns ihre Betten an, doch wir lehnten dankend ab, um keine Bekanntschaft mit Ungeziefer zu machen. Die Russen lebten sehr einfach und in tiefster Armut. Unsere Kulturgegenstände, die wir aus Belgien mitgebracht hatten, bestaunten sie sehr.

Am Morgen ging es schon wieder weiter bis zu einer größeren verlassenen Kolchose, wo wir vorläufig Stellung bezogen. Diese war von rumänischen Truppen verlassen worden, die nur einige räudige Pferde zurück gelassen hatten.

Wir bezogen Wohnung in den Stallungen, entfernten den Dung, der meterhoch lag, und machten uns ein Lager aus frischem Stroh. Die kranken Pferde wurden bis vor die Kolchose gebracht und dort erschossen. Die Nacht war so kalt, dass keiner von uns schlafen konnte. Am anderen Morgen wurde ein großer Lehmofen errichtet, der den Stall etwas erwärmte. Doch wir sollten nicht zur Ruhe kommen.

Um Mitternacht wurde Alarm gegeben. Der erste Zug, dem ich angehörte, musste Minen verladen und wurde zum Einsatz bestimmt. In einiger Entfernung heulte ein Rudel Wölfe. Gierig und hungrig fielen die Tiere später über die Pferdekadaver her. Die Autos setzten sich in Bewegung, und wir fuhren die ganze Nacht durch bis zum nächsten Mittag. Wir froren furchtbar in den Wagen. Am Ziel angelangt, waren wir kaum fähig, uns zu bewegen.

Unser Auftrag wurde von der dritten Kompanie ausgeführt. Mit unserer nachrückenden Kompanie bezogen wir in einem Kolchosedorf Quartier. Auf je eine Hütte wurde eine Gruppe verteilt. In unserer Hütte wohnten drei ältere Leute, zwei Frauen und ein Mann.

Überall lebten diese Menschen in bitterer Armut. Am anderen Tag mussten die Russen ihre Hütten verlassen und wurden – ohne etwas mitnehmen zu dürfen – hinaus in Kälte und Schnee geschickt. Die armen Menschen zogen weinend in die kalte Winternacht.

Unsere Verpflegung war sehr knapp bemessen, und so waren wir gezwungen, Lebensmittel zu organisieren. Unser Zugführer - Leutnant H. - machte mir den Vorschlag, Brot zu backen, da Getreide vorhanden war. Ich versuchte, eine alte Windmühle in Betrieb zu setzen, doch ohne Erfolg. Am anderen Tag konnte ich von zurückflutenden Artilleristen zwei Eimer Mehl und einige Zwiebeln erhalten. Es gelang mir, mit etwas Fett Zwiebelkuchen zu backen. Die Freude, uns nun endlich einmal satt essen zu können, wurde uns schnell verdorben. Wir mussten in die vorderste Kampflinie, um die Stellungen besser auszubauen. Der Russe ließ uns in Ruhe, doch in der Ferne nahten die feindlichen Panzer. Der russische Vormarsch rollte.

Morgens war unser Auftrag ausgeführt. In unser Quartier angekommen, war dieses von zurückflutenden Einheiten belegt, unser Zwiebelkuchen längst verzehrt. Verschiedene Gruppen aus unserer Kompanie wurden als Panzervernichtungstrupps eingesetzt. Wir erhielten am Abend den Auftrag, in einer Talmulde ein Minenfeld zu legen, da der Russe versuchte, hier durchzubrechen. Unter schwerem Beschuss konnten wir unseren Auftrag ausführen. Beim Abrücken hörten wir von einer Anhöhe Hilferufe. Ich versuchte, mit Leutnant H. zurückzugehen. Es gelang uns, die Kameraden durch das Minenfeld zu führen. Russische Panzer waren uns auf den Fersen. Viele von ihnen fuhren auf die Minen und waren kampfunfähig.

Wir erreichten ohne Verluste unsere Stellung. Wir mussten jetzt in aller Eile unser Dorf befestigen und verteidigen. Große Scharen von Truppen lösten sich aus ihren Verbänden und flüchteten in wilder Panik über die Rollstraße. Der Kampf ging jetzt seinem Höhepunkt entgegen.

Am Morgen des 22. Dezember 1942 näherte sich der russische Vormarsch unserer Ortschaft. Von allen Seiten rollten die Panzer heran. Wir waren auf den Nahkampf angewiesen. Der größte Teil unserer Verbände war schon aufgerieben. Es fehlte an Abwehrgeschützen, vor allen Dingen an Flugzeugen. In aller Eile versuchte man, die Verwundeten und Schwerverletzten aus den Hütten wegzubringen, denn alle Wohnhütten und Stallungen lagen voller Verwundeten. Sämtliche Autos wurden dafür herangezogen. Die meisten Kraftwagen kehrten wieder zurück, da die Rollstraße schon von den Russen abgeschnitten war.

Die Rollstraße wurde nun vom Feinde unter schweren Beschuss genommen; alle Fahrzeuge, bespannte und motorisierte, wurden zusammengeschossen. Die Verwundeten blieben nun alle in den Hütten. Vor den Hütten war unsere Weihnachtsverpflegung aufgestapelt, die am Tag vorher noch eingetroffen war, ebenfalls unsere Weihnachtspäckchen aus der Heimat. Ich traf noch einen Kameraden aus meiner Gruppe, der den Ärzten als Sanitäter zugeteilt war. (Es war Kamerad Gustav St., Vater von sieben Kindern.) Dieser berichtete von der traurigen Lage der Verwundeten und Schwerverletzten. Die Lage war hoffnungslos.

Der Nahkampf tobte nun in unserer Stellung. Einige Maschinengewehre waren schon aus dem Gefecht, die Kameraden gefallen. Ein Obergefreiter und ich standen in einem Graben und gaben Feuer, was wir nur konnten.

Jetzt erreichte uns der Befehl, uns zurückzuziehen. Ich hatte kaum den Graben verlassen und war zu meinem Freund geeilt, der ebenfalls an einem MG in Stellung lag, da rief der Obergefreite stöhnend um Hilfe. (Es war Obergefreiter H., ein Sudetendeutscher.) Ich konnte nicht mehr zu ihm gelangen, denn die Panzer walzten in großer Zahl in die Ortschaft. Nun spielte sich einer der traurigsten Tragödien vor unseren Augen ab.

Den Verwundeten in den Hütten, die noch in der Lage waren zu kriechen oder zu gehen, war Befehl gegeben worden, die Hütten zu verlassen. Viele torkelten hilferufend mit gehobenen Händen aus den Türen. Sie wurden erbarmungslos zusammengeschossen. Die Hütten gingen in Flammen auf, und die Verwundeten und Schwerverletzten fanden darin einen grässlichen Tod.

Wir lagen hinter einem großen Getreidehaufen am MG, um den zurück weichenden Kameraden den Rücken zu decken und mussten dieses Schaurige mit ansehen, ohne helfen zu können. Das Dorf brannte nieder und viele, viele Kameraden fanden in den Flammen den Tod. Unsere ganze Verpflegung war ebenfalls ein Raub der Flammen geworden. Nun ging auch unsere Deckung in Flammen auf, und wir mussten schnellstens zurück.

Unser Rückzug führte eine Anhöhe hinauf, die unter schwerem Beschuss lag. Es gelang mir, mit einem Gebet auf den Lippen und den Rosenkranz in den Händen, die gefährliche Anhöhe im schnellsten Lauf zurückzulegen. Das schützende Steppengras war erreicht. Groß war meine Freude, meinen Freund Alois Wagner, der ebenfalls ohne Verwundungen geblieben war, wiederzufinden. Nach langem Umherirren im hohen Steppengras trafen wir weitere Kameraden und sammelten uns schließlich zu etwa 100 Mann, teilweise aus unserer Einheit, aber auch aus anderen Einheiten. Darunter waren auch etliche Offiziere und unser Bataillon - Kommandeur. Es wurde beschlossen, alle zusammenzubleiben, um irgendwo in der Nacht durchzubrechen. Das wurde unser Verderben.

Wir hatten jede Orientierung verloren und zogen im Indianermarsch bis in die Nacht durch die Steppe. Es war heller Mondschein. Gegen Mitternacht erreichten wir ein Steppendorf. Es wurde Kriegsrat gehalten und beschlossen, das Dorf auszukundschaften, ob es schon vom Feind besetzt sei.

Von diesen Soldaten (hier in Belgien) überlebte nur F. J. Schruff (4. von rechts) den Krieg

Bild: Von diesen Soldaten (hier in Belgien) überlebte nur F. J. Schruff (4. von rechts) den Krieg.

Plötzlich sprengte ein Reiter auf uns zu. Wir hielten ihn für einen Rumänen. Er rief uns irgendetwas zu, was wir jedoch nicht verstehen konnten. Doch schon tauchte eine große Reiterschar auf. Nun erkannten wir, dass es Russen waren. Wir griffen zu den Gewehren, doch plötzlich waren wir von russischen Panzern eingeschlossen, die schon das Feuer eröffneten. Hilflos und zusammengebrochen mussten wir uns ergeben. Wir wurden gefangen genommen. Was sich jetzt alles abspielte und ereignete, hätte keiner von uns wohl je gedacht und geträumt. Es waren Entbehrungen und eine Hölle von Leiden; Tragödien, wie sie die zivilisierte und kultivierte Welt kaum kennt. Nur wenige haben diese schreckliche Zeit damals überlebt.

In Gefangenschaft

Die verhängnisvolle Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1942. Wir waren gefangen genommen. Wüst und entmenscht gingen sibirische Einheiten – meist Mongolen – mit uns um. Man nahm uns restlos alles ab. Hautcreme, die sie bei uns fanden, hielten sie für etwas Essbares. Sie bissen hinein und spuckten sie dann fluchend wieder aus: njet charascho (nicht gut). Man hätte lachen können, wäre die Lage nicht so ernst gewesen. Am meisten Freude machten ihnen unsere Armbanduhren. Sie drehten solange daran herum, bis die Uhren übergedreht waren. Mit großer Mühe und Vorsicht gelang es mir, meinen Rosenkranz in der Faust zu halten. Ein Agnus-Dei, ein Geschenk meines Seelsorgers, konnte ich im Mund verstecken. (Agnus-Dei = eine vom Papst geweihte Medaille mit der Darstellung Christi als Lamm Gottes; gilt als Schutzmittel in leiblicher und geistlicher Bedrängnis.) Anderen Kameraden wurde der Rosenkranz aus der Hand gerissen, zu Boden geworfen und darauf getreten, njet charascho. Man schlug sie dabei ins Gesicht.

Ich war mit meinem Freunde Alois Wagner zusammen geblieben und konnte ihn Gott sei Dank später während der Gefangennahme vor einem großen Übel bewahren. Mein Freund hätte drei Tage vorher in Urlaub fahren können. Man ließ ihm die Wahl, jetzt oder im März. Er entschied sich für den März, weil seine Frau dann das dritte Kind erwartete. Nun hatte ihn das Schicksal ereilt.

Mit Kolbenschlägen trieb man uns – wie die Tiere – zurück auf die Rollbahn, auf einen Weg, der ins Verderben führte. Vorbei ging es an großen motorisierten Einheiten, aus denen man uns zurief, wir wären besser in Belgien geblieben. Auch grölten die Russen, dass sie nach Berlin marschieren würden und deutsche Frauen haben wollten. Unter den Einheiten waren auch viele Flintenweiber. Verschiedene griffen nach dem Revolver und schossen auf uns.

Auf der Rollbahn bot sich ein Bild des Grauens. Zusammengeschossene Autos und Lastwagen waren übersät mit Toten, die man als Verwundete hatte wegbringen wollen. So ging es über Leichen – Leichen – Leichen, über Tierkadaver und durch Trümmer. Ich erkannte viele Kameraden, deren Namen ich längst vergaß, oder die mir nur dem Aussehen nach bekannt waren. Viele waren von den Panzern zerstampft und zermalmt und nur noch eine unkenntliche Masse. So erreichten wir mit Grauen unsern Kampfplatz.

Der Morgen dämmerte. Das Dorf lag in Asche, nur noch Balken glühten, darunter verkohlte Leichen. Ein Bild des Grauens, wohin das Auge blickte. Hier wurde Halt gemacht und einige Stunden gerastet. Furcht ergriff uns, denn wir glaubten, hier zu Aufräumungsarbeiten herangezogen zu werden.

Morgens ging es weiter über die Rollstraße, die zu einem Leichenfeld geworden war. Überall Chaos! Wir näherten uns der Stelle, wo der Hauptwiderstand stattgefunden hatte. Die Erde war aufgewühlt, verbrannt von Flammenwerfern; überall ausgebrannte Kampfwagen und verkohlte Leichen. Hier war aber auch der größte Teil unserer Einheiten der Division aufgerieben worden. Rechts des Rollfeldes lagen in einer langen Reihe die Leichen nebeneinander. Wir erkannten darunter einige Offiziere, die man erschossen hatte. Überall erblickte man plündernde Zivilisten, die bei den Toten und unter den zertrümmerten Fahrzeugen Beute suchten. Allerhand nützliches Gerät lag umher, Decken und Lebensmittel, darunter Brot und Weihnachtsstollen. Uns plagte schon ordentlich der Hunger, denn wir hatten vom Mittag des vergangenen Tages an nichts mehr gegessen. Doch was Hunger ist, sollten wir die nächsten Tage noch erfahren.

Ein Gefangener ergriff einen Laib Brot, der zwischen Toten lag und mit Blut durchtränkt war. Er biss hinein und aß – aß das blutige Brot. Es gruselte mich und viele andere. Am Spätnachmittag war ein großer Ort erreicht, der von Rumänen belegt gewesen und verteidigt worden war. Hier wurde wieder gerastet. Man trieb uns in eine Baracke, in der bereits einige hundert rumänische Gefangene lagen. Es wurde Nacht, und wir wurden streng bewacht. Doch beinahe wären wir hier ein Opfer eines deutschen Stuka-Angriffs geworden.

Um Mitternacht hörten wir Flugzeuge. Die Russen gaben Alarm, und schon griffen die Flugzeuge an. Die Bomben fielen dicht neben die Baracken, in denen wir eingeschlossen waren. Wir glaubten, unser Ende sei gekommen, doch auch diese furchtbare Nacht ging vorüber. Am Morgen fanden wir zu unserer Freude einige Fässer Sauerkraut. Obschon das Kraut gefroren war, konnten wir damit etwas unseren Hunger stillen. Mittags wurden wir mit den rumänischen Gefangenen weiter getrieben. Unter den Stößen und Schlägen der Posten schleppten wir uns weiter.

Der Marsch ins Ungewisse

Der Heilige Abend nahte. Viele wollten verzweifeln. Zu Hause schmückte man jetzt den Weihnachtsbaum, und uns trieb man fort ins Ungewisse, in die russische Hölle der Gefangenschaft. Was würde wohl aus uns werden? Oh, wenn sie es wüssten daheim!

Die heilige Nacht verbrachten wir auf dem großen Dunghaufen einer zerschossenen Kolchose. Körperlich und seelisch gebrochen lagen wir in uns zusammengesunken unter klarem Frosthimmel. Was mochte wohl jeder denken? Manche schluchzten und weinten. Das Christkind hatte doch wenigsten auf Heu und Stroh gelegen, wenn auch bitterarm, aber wir waren jetzt noch ärmer und verlassener. Zu Hause in der Heimat sangen jetzt fröhliche Kinder vor dem Weihnachtsbaum oder vor der Krippe: „Da liegt es, ach Kinder, auf Heu und auf Stroh“, und im fernen Russland liegt mancher Vater dieser Kinder frierend und hungernd unter klarem Frosthimmel auf einem Misthaufen.

Wir beteten und hofften, aus unserer traurigen Lage befreit zu werden. Gewiss wird man an uns denken und versuchen, uns zu befreien. Doch mit jedem darauf folgendem Tag schwand auch der letzte Schimmer dieser Hoffnung. Wir hatten nun alles verloren, und so ging mir auf dem Dunghaufen die Geschichte aus der Bibel vom geduldigen Job durch den Kopf, der verlassen und krank auf einem Dunghaufen saß und alles verloren hatte, der jedoch geduldig sein Leid ertrug und betete. Dieses Beten wurde auch mein Gebet in den folgenden furchtbaren Jahren, in Jahren, in denen der Russe sich kaum um die Gefangenen kümmerte, sie zu Tausenden umkommen ließ, sie abknallte, wenn sie krank zusammenbrachen oder sie verhungern ließ. Folgendes Gebet wurde mir oft zum Trost: Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gebenedeit.

Wir glaubten, Weihnachten bestimmt etwas Essen zu bekommen. Uns an den Weihnachtstagen hungern zu lassen – so grausam würde der Russe doch nicht sein. Aber wieder Enttäuschungen!

Dann ging es weiter durch die eisige Landschaft. Die Trostlosigkeit und Eintönigkeit der russischen Winterlandschaft machte uns immer hoffnungsloser und niedergeschlagener. Kein Baum, kein Strauch, nur vereiste Steppe und dann und wann ein einsames Haus.

Die nächste Nacht verbrachten wir wieder auf einer verlassenen Kolchose in einem Stall, der kaum Platz für etwa 300 bis 400 Menschen bot. Es war stockdunkel, als wir hinein getrieben wurden. Wir lagen dicht beieinander. Viele mussten dauernd austreten, denn die meisten litten schon an Durchfall, vom Essen von Schnee und gefrorenen Runkelrüben, die oft in den Stallungen umherlagen.

Auch ich musste einmal austreten unter Aufsicht eines Postens. Als ich zurückkam, fand ich meinen Platz nicht mehr und musste über die anderen hinweg kriechen. Überall gab es Püffe und Stöße. Doch endlich fand ich ein Plätzchen in einer Ecke. Es war stockdunkel. Ich tastete mich zwischen zwei Menschen und legte mich zwischen die beiden. Nichts rührte sich. Morgens, als es hell wurde, erkannte ich, dass es tote Rumänen waren, die vom Gefangentransport einige Tage vorher hier liegen geblieben waren.

Bald ging es weiter ins russische Hinterland. Einmal kamen wir an einem Heldenfriedhof vorbei. Es waren nur roh gezimmerte Birkenkreuze.

Die nächsten Tage wurden immer schrecklicher. Der Hunger plagte uns, und wir waren durchfroren. So wurde der Weitermarsch immer beschwerlicher. Jeden Tag kamen wir an Toten vorbei, erfroren, erschossen, von Wölfen und Aasvögeln zerrissen. Wir wurden so matt, dass auch uns das gleiche Schicksal drohte. Öfter fielen hinter uns Schüsse. Wieder war einer zusammengebrochen, und eine russische Kugel tat das Letzte. So fanden auch viele auf diese Weise den Tod.

Unser Transport vermehrte sich in den nächsten Tagen noch etwas, denn es kamen noch einige kleine Trupps hinzu. Wir kamen nun durch bewohnte Ortschaften. Hier wurde manchmal angehalten. Stets wurden wir ausgeplündert. Man zog uns die Pelzwesten und die Stiefel aus. Als Ersatz für die Stiefel wurden dann Lumpen um die Füße gewickelt. Ein Kamerad neben mir zog eine versteckte Rasierklinge aus dem Futter und schnitt sich die Stiefel bis auf den Fuß auf, um sie so zu behalten. Ich tat dasselbe, und wir banden uns mit Kordel die Stiefel um die Waden zusammen. Als die Russen das merkten, gab es einen Skandal und wir bekamen schwere Schläge. Die Pelzweste hatte ich schon vorher unter das Hemd angezogen. So behielt ich meine warmen Sachen und konnte mich vor Erfrierungen schützen.

In einer anderen Nacht wurden wir in einen Brotladen dicht zusammengetrieben. Sitzen konnte man nicht. Einige kletterten in die Regale, um sich dort hinzulegen. Wieder andere legten sich auf oder unter die Theke. Ein Kamerad von uns Deutschen fand dort ein Stück Brot, was wir unter uns teilten. Jeder erhielt ein Stückchen. Jetzt erkannten wir, wie kostbar das Brot war. Es war etwas Heiliges geworden. Wie oft hatten wir bisher im Leben diese heilige Gabe Gottes missachtet oder gering geachtet.

Mein Freund musste plötzlich austreten und kehrte nicht zurück. Ich war in großer Unruhe und meldete mich nach einiger Zeit ebenfalls zum Austreten, um etwas über ihn zu erfahren. Man trieb mich sofort wieder zurück. Gegen Morgen wurde auf einmal die Tür aufgestoßen und man stieß einen Menschen hinein, der kaum zu erkennen war. Es war mein Freund Alois Wagner. Seine Augen glühten fast irr und verrieten Entsetzen. Man hatte ihn draußen gepackt und in eine Hütte geschleppt. Dort hatte man ihn ganz nackt ausgezogen. Was man nun alles mit ihm angestellt hatte, verschwieg er. Er war ein gebrochener Mann. Der russische Steppanzug, den man ihm gegeben hatte, bedeckte kaum seinen bloßen Körper und konnte ihn nur wenig gegen die grimmige Kälte schützen. Ich hatte Angst und Sorge um ihn, dass er weitere Strapazen nicht mehr aushalten würde. Wir hofften, am Tage Tote zu finden, um deren Kleider anzuziehen, was uns auch gelang.

Wir mussten weiter, weiter ins schreckliche Ungewisse. Stolpernd schleppten wir uns durch die tief verschneite, weglose russische Steppe. Manchmal erblickten wir einen Steppenhasen, aber sonst war die weite Landschaft wie tot. Was uns am meisten aus unserer Schwermut aufschreckte, war das Geschrei der Nebelkrähen und Aasvögel, die uns im kurzen Abstand folgten, um sich dann auf ihr Opfer zu stürzen, deren es jeden Tag aus unseren Reihen gab. Die Posten fürchteten, den ganze Transport zu verlieren und trieben uns immer mehr an: dawai, dawai (schnell, schnell). Sie stießen und schlugen uns mit den Kolben. Sie versprachen uns immer wieder, bald am Ziel zu sein, was natürlich immer leere Phrasen waren. Die russischen Versprechungen kannten wir. So waren wir schon tagelang unterwegs ohne etwas Warmes zu essen und zu trinken. Der Schnee stillte unseren Durst. Sonnenblumenkerne und einige gefrorene Rüben milderten den größten Hunger.

So kamen wir durch einige Ortschaften. Russische Frauen gaben uns einige Brocken Brot und ein paar gekochte Kartoffeln. Jeder war bestrebt, etwas zu bekommen, und so fiel man förmlich über diese Frauen her und riss ihnen das Brot aus den Händen, was zu einer großen Panik führte und die Posten zu scharfen Maßnahmen veranlasste.

In anderen Orten warfen die Frauen das Brot in den Schnee. Wie die Tiere fielen wir darüber her, und nur mit großer Mühe konnte man etwas erhaschen. Ich war oft erstaunt und gerührt über das Mitleid der Leute. Gegen Abend erreichten wir einen anderen größeren Ort, der von russischem Militär belegt war. Hier verließen mich meine Kräfte und ich sank erschöpft in den Schnee. Ich glaubte, nun erschossen zu werden. Doch ein russischer Offizier, der am Wege stand, ergriff seine Feldflasche und hielt sie mir an den Mund. Ich tat zweimal einen kräftigen Schluck von dem alkoholischen Getränk und sah in die gütigen Augen dieses Mannes. Die Posten ließen ihn gewähren. Soviel Barmherzigkeit hätte ich nicht erwartet. Noch heute kann ich mich an dieses freundliche, gütige Gesicht erinnern. Es prägte sich tief in meine Seele ein. Möge der gütige Gott ihm seine Gnade dafür geschenkt haben. Wäre ich draußen in der Steppe zusammengebrochen, wäre eine Kugel mir gewiss gewesen.

Die kommenden Tage wurden immer schrecklicher. Hunger, Frost, Durst und Typhus waren die vier unheimlichen Gesellen, die uns im Nacken saßen und sich ihre Opfer holten. Denjenigen, die den Entbehrungen erlagen, drohte das Erschießen. Dann stürzten sich Wölfe und Aasvögel auf die Leichen.

Ich raffte alle meine letzten körperlichen Kräfte und meine ganze Willenskraft zusammen, um vor dem weißen Tod bewahrt zu bleiben. Hier konnten nur ein starker Glauben und ein felsenfestes Gottvertrauen helfen. Doch wer in guten Zeiten keine Zeit für seinen Schöpfer gehabt hatte, der fand jetzt nicht die Kraft zum Gebet.

Immer wieder hieß es, dass wir bald das Ziel erreichen würden. Doch das glaubten wir schon längst nicht mehr. Es wird sowieso bald zu Ende sein, befürchteten wir. Tagsüber tobten oft schwere Schneestürme in der Steppe. Und der Marsch im tief verschneiten Steppengras wurde immer schwerer. Dazu drohte ein neues Gespenst: Viele wurden schneeblind und konnten nichts mehr sehen. Die Bedauernswerten jammerten und weinten. Wir mussten die Blinden in den Arm nehmen und führen. Schlimm ging es auch einigen Verwundeten, die den Arm in einer Binde trugen. Bald spürten sie keine Schmerzen mehr, denn der Arm war schwarz und abgestorben.

Marsch durch das winterliche Rußland
Marsch durch das winterliche Rußland Marsch durch das winterliche Rußland

Wir erreichten wieder eine größere Stadt. Wie das Vieh trieb man uns dawai, dawai in einen großen Panzergraben, der um das Städtchen herum aufgeworfen war. Wir glaubten, nun sei unsere letzte Stunde gekommen, und man würde uns hier zusammenschießen. Nach langem, langem Warten hieß es dann dawai kuscha (schnell essen). Es gab etwas zu essen, einen dicken Hirsebrei. Wir bekamen wieder Mut und hofften, nun mal wieder satt zu werden. Zwei Mann bekamen immer eine Konservenbüchse voll. Mit neuem Mut zogen wir weiter. Doch der Weitermarsch wurde abermals schrecklich: Eis und Schnee sowie kaum etwas zu essen und zu trinken.

I n h a l t s v e r z e i c h n i s

Teil I
Vorwort
Wo sind sie geblieben
Von Belgien zur russischen Front
In Gefangenschaft
Der Marsch ins Ungewisse
Teil II
Unmenschliche Unterkünfte
In Waggons eingepfercht
In Moskau
Massensterben im Lazerett
Teil III
Eine amerikanische Kommission
Moderne Sklaven
Holzflößen auf der Wolga
Abtransport nach Sibirien
Teil IV
Sibirische Kälte
Das Ende des Krieges
Auf der Heimfahrt