Der Matronentempel Nettersheim - Volltext
Sophie Lange
In: Wo Göttinnen das Land beschützten,1994
Die Matronenplätze mit ihren einstigen Tempeln sind zunächst einmal historische Stätten. Doch es sind zusätzlich uralte magische Plätze, die eine besondere Ausstrahlung haben.
Unsere Vorfahren fühlten sich von manchen Plätzen in der Landschaft besonders angezogen. An diesen Orten empfanden sie eine übernatürliche Kraft, eine klare Harmonie und eine innige Verbundenheit mit allen Wesen der Natur. Erst später benutzten die Menschen den Begriff Göttlichkeit für diese Wahrnehmung. An diesen heiligen Orten gab ihnen die Mutter Erde neue Energie für den Lebenskampf und für eine spirituelle Weiterentwicklung.
Als heilige Plätze galten mächtige Steine, erhabene Bäume, Berge und Hügel Quellen und Wasserläufe. Hier trafen sich die Menschen zu rituellen Handlungen, zu fröhlichen Festen, zu beratenden Versammlungen und zu Wetterbeobachtungen. Waren diese Plätze zunächst reine Naturplätze gewesen, so wurden sie im Laufe der Zeit mit Tempeln und noch später mit Kirchen überbaut. Heute können wir an diesen alten Plätzen noch etwas von der Magie der archaischen Erdkräfte und von dem göttlichen Einfluss spüren.
Etwas Außergewöhnliches ist es sicher, dass im Nettersheimer Raum drei Kultplätze nahe beieinander liegen, die offen zugängig sind und im Laufe der fast 2000 jährigen Geschichte nicht unter neueren Bauten verschwanden. Auf schnurgerader Linie sind die Tempel Nettersheim, Zingsheim und Nöthen/Pesch nur einige Kilometer voneinander entfernt. Wissenschaftlich erklärt man den geringen Abstand damit, dass der gesamte Raum dicht besiedelt war, viel dichter als bisher vermutet wurde. Wenn auch die Kultplätze einen unmittelbaren Bezug zu den Siedlungen hatten, so erklärt das jedoch nicht, warum die drei Tempel im Nettersheimer Raum auf einer Linie liegen und anscheinend eine bedeutende Beziehung zueinander haben. Ob nun Sternbilder oder Kultlinien dahinter stecken, bleibt offen.
Obwohl im Rheinland zahlreiche Matronensteine gefunden wurden, waren bis nach 1900 Hinweise auf Matronenheiligtümer äußerst selten. Tempelbezirke, die ausschließlich den Matronen geweiht waren, hielt man für unwahrscheinlich. Die Auffindung der Tempel in Nettersheim und in Nöthen/Pesch revidierte diese Ansicht grundlegend. Das Heiligtum in Nettersheim ist der älteste in seinen Grundrissen erhaltene Tempel, der ausschließlich den Matronen geweiht war. Er verdient daher besondere Beachtung.
Dieser Matronen-Kultplatz mit der Flurbezeichnung „Görresburg“ zieht viele Menschen an. Unter stetem Zeitdruck stehende Touristen überfliegen die Informationstafel, betreten den Platz (von hinten), schießen ein paar Fotos und haken den gallo-römischen Tempelbezirk auf ihrer langen Liste der Sehenswürdigkeiten ab. Auch der kilometerhungrige Wanderer verlässt mit einem „nur ein paar Mauern“ sehr bald wieder den teilrestaurierten Tempelbezirk.
Wer sich jedoch Zeit nimmt, der wird manche Merkwürdigkeit im Tempel und dessen „Bannkreis“ entdecken. Der heimatkundlich oder geschichtlich Interessierte, der sich intensiv mit der Matronenverehrung beschäftigt, findet ein vielfältiges Forschungsfeld auf der Görresburg. Der Naturfreund entdeckt die Schönheiten dieses Fleckchen Erde, genießt den Blick über die Täler in die Weite, beobachtet fasziniert das Licht-Schatten-Spiel von Sonne und Wolken auf den Wiesen, lauscht dem Lied des Windes und dem Gesang der Vögel, riecht die Frische des Grases und der Erde und erahnt die Allkraft der Mutter Natur. Die Görresburg ist aber auch Ziel von Menschen, die auf der Suche nach heilig-heilenden Plätzen sind und – im Gegensatz zu energie-konsumierenden Kraftorttouristen – sehr einfühlsam mit den Kräften der Erde umgehen. Frauen entdecken auf dem geschichtsträchtigen Kultplatz alte Frauenmacht und erfahren neue Frauenkraft. Wer sich Muße nimmt für eine meditative Betrachtung der Matronen-Bildnisse, wird von der steinernen Gelassenheit der drei thronenden Göttinnen eingefangen. Wer sich auf die Erdkraft des Ortes einlässt und das „Reich“ der Matronen ganzheitlich erfasst, spürt etwas von der uralten Magie und kommt zu Bewertungen folgender Art: Eine typische Kultgegend, eine heilige Landschaft, ein Stück Irland, ein keltisches Paradies, Eiflia magica.
Die Entdeckung
Die „Görresburg“ ist ein Flurstück zwischen Nettersheim und Marmagen. Die Bedeutung des Flurnamens kann nicht eindeutig geklärt werden. Auf der Tranchotkarte (1809) ist „Görresberg“ zu lesen, in Unterlagen von 1869 heißt es jedoch schon „Görresburg“. Leider ist eine Urkunde des Klosters Steinfeld von 1649, die den Flurnamen enthielt, durch einen Wasserschaden zu Ende des Zweiten Weltkriegs im Landeshauptarchiv Koblenz unlesbar geworden. In einer Besprechung dieser Urkunde von 1941 ist der Flurname mit „Görresburg“ angegeben.1
Vom Ursprung her stammen beide Begriffe, sowohl Berg als Burg, von der indogermanischen Wurzel beregh = hoch, erhaben. Die Görresburg kann als Gottesberg gedeutet werden. Aber auch als „Godenberg“ ist eine Übersetzung möglich, womit ein Bezug zu der Version Tochter, leibliche und geistige Mutter (Gode, Patin) gegeben wäre. Es kann aber auch der Vorname Jörres (von Georg) gemeint sein und auf einen ehemaligen Grundstückbesitzer dieses Namens hinweisen.
Im Jahre 1907 wurden auf der Görresburg Mauerreste entdeckt. Folgendes ist darüber überliefert: „Leute von hier hatten in irgendeiner Chronik gelesen, dass auf der Görresburg Altertümlichkeiten zu finden seien. Es bildeten sich nun zwei Parteien, die auf eigener Faust Nachgrabungen hielten. Dabei stießen sie tatsächlich auf Mauerreste. Jetzt wurde mit Verzweiflung gegraben.“2
Der Nettersheimer Heimatforscher Friedrich Jakob Schruff (1913-1987) erzählte über die Auffindung des Matronentempels folgendes: „Ein Bauer aus Nettersheim fand eines Tages ein Dokument, auf dem geschrieben stand, dass auf der Görresburg Altertümer zu finden seien. Als er nun losgrub, stieß er auf Ruinen, dessen Steine er nach Hause schleppte, um damit einen Anbau eines Stalls zu beginnen. Schon bald stellten sich andere Bauwillige ein. Im Jahr 1909 stießen zwei Männer auf einen großen Stein, der Bildnisse und Schriftzüge zeigte. Die beiden Männer gerieten in Streit, wem der schöne Stein zustand. Dabei interessierte sie nicht das Alter des Steins, sondern lediglich die Größe, mit der sich schnell ein Stück Stallmauer bauen ließ. Der Disput endete damit, dass beide voller Zorn den Stein zerschlugen. Einer der beiden Männer soll dann dem Pfarrer den unchristlichen Streit im Beichtstuhl zugeflüstert haben. Dieser war zwar zunächst entsetzt, was da „Heidnisches“ aus grauer Vorzeit ans Tageslicht gekommen war, brachte aber dann umgehend den Stein ins Rollen und meldete den Fund dem Provinzialmuseum (späteres Landesmuseum) in Bonn. Der Stein des Anstoßes entpuppte sich als Matronen-Weihestein.“
Der Matronenforscher Franz Cramer wusste 1914 von der mündlichen Überlieferung eines Heidentempels: „Da, wo die Urft, ein Zufluss der zur Maas gehörenden Rur, etwas oberhalb des heutigen Dorfes Nettersheim von links her einen kleinen Bach, den Schleifbach, aufnimmt, erhebt sich zwischen den beiden Tälern ein scharf geschnittener Bergvorsprung, die Görresburg, vom Volksmund auch „Heidentempel“ genannt. Die altüberkommene, im Volksmunde weiterlebende Überlieferung von einer heidnischen Anlage sollte sich überraschend bestätigen.“3
Obwohl in alten Nettersheimer Unterlagen nie die Rede von heidnischen Anlagen ist, ist auch bereits drei Jahre vor der obigen Veröffentlichung von einem „Heidentempel“ die Rede. Wahrscheinlich handelt es sich hier aber eher um eine Verwechslung mit dem sogenannten „Heidentempel“ bei Pesch.
Man ging aber auch von einer ehemaligen Burg aus. Josef Hagen, Assistent bei der Ausgrabung, der sich später einen Namen durch seine Nachforschungen über die Römerstraßen machte, schrieb: „Neben der Bezeichnung Görresburg, die auf eine mit fabelhaften Reichtümern dort begrabenen Ritter zurückgehen soll, hat sich eine andere landläufige Benennung der Stätte als richtig erwiesen: „Heidentempel“ heißt es noch jetzt im Volksmund und der ausgegrabene heidnische Tempel hat die Richtigkeit der Jahrhunderte alten Tradition bestätigt.“4
Der Lehrer, Bergbeamte und Altertumsforscher C.A. Eick (1814 - 1868) gab allerdings in seinem Buch über den Römerkanal (1867) keinen Hinweis auf einen mutmaßlichen Heidentempel, obwohl er das Gebiet um Nettersheim sehr intensiv nach römischen Spuren absuchte und Römerkanal und Römerstraßen erforschte.5
Der Schriftsteller Hermann Ritter (1864-1924) schreibt in seinem Reise- und Wanderbuch „Das Jülicher Land“ nichts von einem Heidentempel bei Nettersheim. Er weiß zwar, dass in der Nähe von Steinfeld „Römer ausgegraben wurden“, doch in dem 1912 veröffentlichten und sicher einige Jahre früher geschriebenem Werk sind ihm der 1909 entdeckte Matronentempel und die bereits bekannten Funde an der „Steinrötsch“ nicht erwähnenswert oder vielleicht auch nicht bekannt. Er schreibt kurz und knapp: „Hinter Nettersheim (dem Dorf) schweigt die Geschichte.“6
Heute ist der Name “Heidentempel“ für die Görresburg nicht üblich.
Ausgrabungen und Funde
Nachdem die Funde aus Nettersheim dem Provinzialmuseum Bonn gemeldet worden waren, reagierte man dort sofort; die gefundenen Matronensteine wurden erworben und die Ausgrabung der Anlage von Anfang Juni bis Mitte Juli 1909 durchgeführt. Vier Matronensteine hatten die Bauern bereits freigelegt, als die offizielle Freilegung begann. Im Ausgrabungsbericht von 1910 schrieb der Ausgrabungsleiter Dr. Hans Lehner, Direktor des Provinzialmuseums Bonn, über das zerschlagene „Streitobjekt“: „Dieses Monument, aus weißlichem Sandstein bestehend, muss so ziemlich das besterhaltene gewesen sein, aber leider ist ihm am übelsten mitgespielt worden. Die Finder konnten sich nämlich nicht über das Eigentumsrecht (auf welches in Wirklichkeit natürlich keiner einen vollen Anspruch hatte) einigen und ließen ihren Zorn an dem Denkmal aus, indem sie es kurz und klein schlugen und die Trümmer als Wurfgeschosse bei der Schlichtung ihrer Meinungsverschiedenheit benutzten. Glücklicherweise aber hatte der Intelligenteste die Inschrift vorher abgeschrieben und dank der ausgezeichneten Klarheit der Buchstaben ist die Abschrift so korrekt, dass sie ohne weiteres benutzt werden konnte. Nachträglich fanden sich dann noch einige traurige Trümmer des Denkmals zusammen, welche die Richtigkeit der Buchstabenverteilung der Abschrift vollständig bestätigten.“7
Der Stein war von dem Beneficiarier Marcus Massonius Vitalis zu Ehren der aufanischen Göttinnen im Jahr 218 aufgestellt worden. Es konnten nur noch die Beine der linken Matrone bis zum Knie erkannt werden. Auf der linken Schmalseite war ein Pflanzenornament zu sehen, darüber eine bekleidete, stehende, weibliche Gestalt.8
Ein weiterer Stein wurde von den Bauern „aus Unachtsamkeit“ beschädigt. Er ist den aufanischen Matronen von einem Beneficiarier namens C. Lucretius Statius gestiftet.
Inschrift:
MA(TRONIS) AUFANIABU(S)
C(AIUS) LUCREITU(S)
FATIUS B(ENE)F(ICIARIUS)
CO(N)S(ULARIS) L(IBENS) M(ERITO)
Übersetzung: Den Aufanischen Matronen (hat) Gaius Lucretius Fatius, Straßenpolizist im Stab des Statthalters gerne (und) nach (ihrem) Verdienst sein Gelübde eingelöst.
Ein Abguss dieses Altarsteins ist im Tempelbezirk aufgestellt (mittlerer Stein). Im Ausgrabungsbericht ist er folgendermaßen beschrieben: „Oben sitzen die drei Matronen auf gemeinsamer Bank in einem Tempelchen, von dem nur noch die flankierenden Pfeiler teilweise erhalten sind. Die mittelste mit einer großen Blume in der erhobenen rechten und einem sehr beschädigten Kästchen (?) in der linken Hand auf dem Schoß. Die linke Matrone hält ein Kästchen oder Körbchen, die rechte Matrone hält mit der rechten Hand ein trommelförmiges Kästchen auf dem Schoß, die linke Hand hält sie mit einem undeutlichen Gegenstand vor die Brust. Ihr Kopf ist verloren. Alle drei tragen keltische Halsreifen. Auf der linken Schmalseite eine ganz nackte weibliche Figur (Venus), neben ihr ein undeutlicher Gegenstand, hinter ihr eine Draperie. Auf der rechten Schmalseite eine nackte, sehr bestoßene Figur mit Keule (?), also wohl Herkules.“ Die genannte Draperie wurde 1977 als Mantel gedeutet, den Venus „hinter ihrem Rücken mit gesenkter Rechten und erhobener Linken ausbreitet.“9 Die Darstellung von Venus und Herkules kann eine Referenz an diese römischen Gottheiten sein, kann aber auch auf den Sternenhimmel hinweisen. Besonders die Venus wurde als Morgenstern sehr beachtet.
Die Bauern fanden 1909 einen weiteren gut erhaltenen, von M. Petronius Patroclus gestifteten Weihestein, von dem ebenfalls ein Abguss heute auf der Görresburg steht, linker Stein vom Betrachter.
Inschrift:
MATRONIS AUFANIABUS
M(ARCUS) PETTRONIUS PATROCLUS
B(ENE)F(ICIARIUS)
CO(N)S(ULARIS)
ITERATA STATIONE
V(OTUM) S(OLVIT) L(IBENS) M(ERITO)
Übersetzung: Den Aufanischen Matronen hat Marcus Pettronius Patroclus, Straßenpolizist im Stab des Statthalters und zum zweitenmal [wiederholten Mal] auf Posten, sein Gelübde gerne (und) nach (ihrem) Verdienst eingelöst.
Die Beschreibung von 1918: „Oben eine Ädikula, auf deren Giebeldach zwei Voluten und eine Birne sind. [Die Birne ist durch Vandalismus inzwischen auf dem Abguss abgeschlagen.] Im Innern sitzen auf einer Bank mit hoher Rücken- und Seitenlehne die drei Matronen in der üblichen Tracht mit den auf der Brust geschlossenen, unten offenen Mänteln und anscheinend mit Halsreifen geschmückt. Die linke hält ein Körbchen mit Früchten, die mittlere (ohne Haube) ein viereckiges Kästchen, die rechte zwei große kugelige Früchte (Kürbisse?) auf dem Schoß. Auf den Schmalseiten links: Füllhorn mit Pinienzapfen, zwei Birnen und mit zwei Früchten [Granatäpfel]; rechts: dreifüßiges Tischchen mit zwei einhenkligen Kannen, dazwischen ein Schweinskopf mit einer Schale, darüber eine Girlande mit Vogel.“
Den großen Vogel unten auf der linken Schmalseite nennt Lehner nur 1910 im Ausgrabungsbericht (unten ein Vogel). Es handelt sich um einen Kranich, den Künder von Frühling und Winter.
Beachtung verdient auf diesem Stein der Zusatz „ITERATA STATIONE“. Der Beneficiarier war anscheinend stolz darauf, dass er wieder bei den aufanischen Matronen auf der Görresburg seinen Dienst leisten konnte. Es war ihm so wichtig, dass er es in seinen Votivstein einmeißeln ließ. Vielleicht hatte er sogar ein Gelübde getan, den Matronen einen Stein zu widmen, wenn er wieder zu der heiligen Stätte zurückkehren konnte.
Bei der offiziellen Ausgrabung durch das damalige Provinzialmuseum wurde der Matronenstein, der heute auf der Görresburg in einer Kopie rechts vom Betrachter aufgestellt ist, freigelegt. Durch seine geschützte Lage war auch dieser Weihestein in Bild und Schrift überaus gut erhalten [die Kopie ist seit Jahren bis heute (2010) durch Vandalismus stark beschädigt]: „Der Stein lag mit der Bild- und Schriftseite nach unten und zwar mit dem oberen Teil auf der Mauer. In der Ädikula, welche mit Pfeilern flankiert ist und deren Giebeldach eine eigentümliche, muschelrandartige Verzierung aufweist, sitzen auf gemeinsamer Bank die drei Göttinnen in dem üblichen Kostüm, die beiden äußeren mit turbanartiger Kopfbedeckung, die mittelste mit wallenden Haaren, alle drei mit Halsreifen, an denen halbmondförmige Anhängsel hängen, geschmückt und mit Fruchtkörbchen auf dem Schoß. Oben auf dem Dach bemerkt man noch den Rest einer Birne.“
Inschrift:
DEABUS AUFANI[S]
PRO SALUTE INVICTI
ANTONINI AUG(USTI)
M(ARCUS) AURELIUS AGRIPINUS
B(ENE)F(ICIARIUS) CO(N)S(ULARIS)
V(OTUM) S(OLVIT) L(IBENS) M(ERITO)
Übersetzung: Den Aufanischen Göttinnen für das Wohlergehen des unbesiegten Kaisers Antoninus (hat) Marcus Aurelius Agripinus, Straßenpolizist im Stab des Statthalters, sein Gelübde gerne (und) nach (ihrem) Verdienst eingelöst.
Hier handelt es sich um Marcus Aurelius Severus Antoninus, römischer Kaiser von 211 – 217 n. Chr. Im Jahr 213 besuchte er die germanischen Provinzen anlässlich eines Feldzuges gegen einfallende Alemannen und nahm darauf den Siegernamen Germanicus Maximus an. Vielleicht entstand zu dieser Zeit auch der Spitzname Caracalla (Mäntelchen) nach seiner Lieblingsgarderobe, dem gallischen Mantelumhang. Unter dieser Umbenennung ging er in die Geschichte ein. Es ist vorstellbar, dass zur Zeit seines Besuchs in Gallien der Weihestein in Nettersheim für das Heil des Kaisers aufgestellt wurde.
Wichtig ist auf diesem Stein das Wort „deabus“. Es bezeugt ganz eindeutig, dass die drei Frauen Göttinnen sind und keine menschlichen Gestalten, Ahnfrauen, Schicksalsfrauen oder ähnliches.
Ein weiterer Weihestein wurde in sechs Fragmenten gefunden. In einem kreisrunden Medaillon waren die fast ganz zerstörten Brustbilder der Göttinnen zu vermuten. Zusätzlich wurden ein Unterteil eines Weihesteins sowie 14 Teile einer großen Inschriftentafel mit einer Weiheinschrift sichergestellt. Zahlreiche kleine Bruchstücke, die oftmals nur einige Buchstaben zeigten, wiesen auf weitere Matronensteine hin. Wenn man jedes größere Fragment für einen vollständigen Weihestein ansieht, so kommt man auf ca. 40 Matronensteine.
Erwähnt sei noch der Aufanienstein eines Beneficiariers, der bereits 1891 als Wandung eines fränkischen Grabs in Nettersheim (Steinfelderstraße) gefunden worden war.10 Erst nach der Freilegung des Matronentempels auf der Görresburg im Jahre 1909 konnte man diesen in Zweitverwendung gefundenen Weihestein richtig einordnen.
Alle Matronen der Nettersheimer Steine tragen die übliche ubische Festtagstracht und die unterschiedliche Kopfbedeckung. Keltische Halsreifen und Halsketten mit Mondsichelanhängern sind zu erkennen. Als Opfergaben sind viermal eine einzelne Birne, einmal zwei Birnen und einmal fünf Birnen abgebildet. Sechsmal ist ein Baum zu finden, zusätzlich zweimal ein Blatt und zweimal Zweige. Ein Füllhorn ist mit zwei Granatäpfeln, zwei Birnen und einem Pinienzapfen gefüllt.
Bei der Ausgrabung auf der Görresburg wurden zahlreiche römische Münzen gefunden, die eine Nutzung des Tempels bis ins 4. Jahrhundert vermuten lassen. Außerdem stieß man auf das Bruchstück einer toskanischen Säule, auf Scherben (Sigilata) und Teilstücke, die folgende Gegenstände erkennen ließen: Weißkrüge und Kannen, weiß- und rottoniges farbüberzogenes Trinkgeschirr, rauwandige Töpfe und tiefe Schüsseln, Näpfe und steilwandige Teller, Reibschüsseln sowie viele Kleinteile (Nägel, Glas, Lanzenspitzen usw.) Zwei Terrakottafragmente ließen auf kleine Matronen-Altärchen schließen.
Gefunden wurde auch der Baustein des Tempels, der den Tempelbezirk als Heiligtum einer Dorfgemeinde auswies und von den Vicani, den Bewohnern dieser Siedlung, den Matronen geweiht wurde. Die „Stiftungsurkunde“ ist ein 52 cm breiter, 38 cm hoher und 47 cm dicker Sandsteinwürfel. Er trägt die Inschrift
MATRON(I)S
AUFANIABUS
CANI
M(?) E
(den aufanischen Matronen geweiht von den Dorfbewohnern..?.)
Die letzte Zeile des Bausteins ist durch Verwitterung nicht mehr zu entziffern. Es könnte in der Mitte ein M stehen, vermutet nach eingehender Untersuchung der Archäologe Dr. Frank Biller aus Münster, so dass der nah gelegene Ort Marmagen (Marco Magus) als möglicher Vicus gemeint sein kann.11 Das Fragezeichen muss allerdings weiterhin bleiben.
Von den zahlreichen Funden aus der Römerzeit im Nettersheimer Gebiet seien noch zwei Brandgräber erwähnt, auf die man 1937 südlich der Görresburg gestoßen war.12 Der Fund wird in das 1. und 2. Jahrhundert datiert, eine Zeit, in der die Römer ihre Toten außerhalb einer Siedlung begruben. Ein größeres Gräberfeld wurde bisher nicht aufgefunden.
In der Steinrütsch, an der Urft, wurde seit 1870 mehrmals antikes Mauerwerk angeschnitten. Es wurden verschiedene Funde gemacht, die auf eine unterschiedliche Nutzung des Platzes im Laufe der Jahrhunderte hinweisen: Sandsteinblöcke, Halbsäulen, ein Meilenstein und Eisenschlacke. Bei der Sicherung des Platzes fand man 1976 mehr als 700 römische Münzen, vorwiegend aus der Zeit vom 1. bis 4. Jahrhundert. Sicher ist, dass diese inzwischen „römischer Werkplatz“ genannte Gemarkung im zweiten und dritten Jahrhundert eine Benefiziarierstation war, denn diese Wachsoldaten sind ausschließlich die Stifter der Weihesteine auf der Görresburg. Die Station steht eng mit dem Tempelbezirk in Verbindung, liegt sie quasi im Tal zu Füßen des Matronentempels. Heute ist die landschaftliche Verbindung nicht mehr so klar erkennbar, da die Bahngleise und die umgeleitete Urft eine direkte Begehung zwischen den beiden Fundorten nicht möglich machen. Nach neuen Erkenntnissen soll sich hier an der Steinrütsch hauptsächlich der Vicus erstreckt haben. Manche Grundmauern weisen auf einen burgus hin, ein Römerkastell.
Einen weiteren Fund machte man 1979 auf einem Feld südlich der Görresburg. Es handelt sich um ein Relief des Matronen – Kultgefährten Merkur, der durch den Merkurstab (Caduceus - Stab mit zwei Schlangen) eindeutig identifiziert werden kann. Der Stein dürfte aus der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts nach Chr. stammen.13
Der Aufanienkult
Alle Inschriften in Nettersheim bezeugen eine Weihung an die aufanischen Matronen. Meistens sind die Göttinnen als Matronis Aufaniabus tituliert, zweimal als Deabus Aufanis (aufanische Göttinnen), einmal nur als Aufanis. Auf dem zerschlagenen Stein steht in abgekürzter Form in honorem domus divinae Deabus Aufanis (zu Ehren der heimischen, verehrungswürdigen aufanischen Göttinnen). Eine ähnliche Bezeichnung ist auf dem in Zweitverwendung als Grabwandung entdeckten Stein ergänzbar: In honorem domus divinae sanctissimis Matronis.
Vor 1909 hatte man bereits an neun verschiedenen Fundstellen 13 Weihesteine als Aufaniensteine erkannt: Zülpich 3, Bonn 2, Köln 2, Rheder bei Euskirchen 1, Haus Bürgel bei Düsseldorf 1, Mainz 1,Nimwegen in den Niederlanden 1, Lyon in Südfrankreich 1 und Carmona in Spanien 1. Inzwischen ist der Matronenbeiname Aufania genau 100-mal belegt, hauptsächlich von Bonn, Nettersheim und Zülpich, zusätzlich von Xanten. Die Fundstellen dokumentieren eine Verehrung am Rhein und in der Voreifel, also im ehemaligen keltischen Eburonenland, dem späteren germanischen Ubierland.
Von den Einzelfunden im Ausland nimmt man an, dass Legionäre keltischer oder germanischer Abstammung im fernen Land ihren heimischen Gottheiten „als Erinnerung an die Heimat“ einen Altar widmeten.
Bis 1909 hatte man den Zülpicher Raum aufgrund der gefundenen Matronensteine als Zentrum des Aufanienkults in Betracht gezogen. Nach der Entdeckung des Aufanientempels auf der Görresburg sah man Nettersheim als die Kultheimat der Matronae Aufaniae. Das änderte sich wiederum, als im Jahr 1929 in Bonn Aufaniensteine entdeckt wurden. Unter dem Bonner Münster, wo bereits 1873 ein Votivstein gefunden worden war, kamen 70 römische Steindenkmäler ans Tageslicht, darunter 36 Aufaniensteine „in seltener Schärfe und Klarheit der Schrift und des Bilderschmuckes.“14
Einige Reste wie Rundbögen, Pilaster und Gesimse gaben Hinweise auf einen römischen Tempel an der Stelle oder in unmittelbarer Nähe des jetzigen Münsters. Die Grundrisse konnten indes nicht mehr festgestellt werden. Nach den neuen Funden von Bonn nahm Lehner an, dass der Aufanienkult nicht in Nettersheim, sondern in Bonn sein „hochangesehenes Aufanienzentrum“ gehabt hatte. Als Beweis für das kultische Aufanienzentrum in Bonn wurde die Errichtung des Matronentempels von 161 n. Chr. und der Vettiusstein von 164 gesehen.
Brachten römische Soldaten den Aufanienkult nun von Bonn in die Eifel und nutzten dort einen alten heidnischen Kultplatz? Oder brachten die Beneficiarier die aufanischen Matronen von der Eifel nach Bonn, wo dann die Steinsetzung ihren Anfang nahm? Zeigt der Vettius-Stein aus Bonn auch recht städtische Damen, so sind die meisten Matronen eher ländlich dargestellt, so dass eine bäuerliche Abstammung aus der keltischen und germanischen Vorstellungswelt angenommen werden kann. So tendiert man inzwischen wieder mehr zu Nettersheim als Ausgangspunkt des Aufanienkults und hält die Anlage in Nettersheim für den ältesten der Tempel. So heißt es 2008 über die Ergebnisse des Archäologen Dr. Frank Biller: „Biller kann überzeugend nachweisen, dass die Matronenkulte auf dem Land ihren Ursprung hatten und von dort in die städtischen Zentren Köln und Bonn transferiert wurden.“15
Dass der Aufanienkult aus vorrömischer Zeit herrührt, war für Lehner selbstverständlich. Der ansonsten so sachlich berichtende Archäologe geriet in seinem Ausgrabungsbericht ins Schwärmen, als er darauf einging: „Und was sich bis dahin schüchtern unter dem farblosen Begriff des genius loci verbarg, das tritt nun sieghaft an die Öffentlichkeit mit wahrem Namen: Die barbarischen Ortsgottheiten, zu denen die einheimische Bevölkerung zu beten niemals aufgehört hatte, sie erscheinen nun auf den amtlichen Weihedenkmälern der römischen Straßenaufsichtsbeamten; die Beneficarii consularis stellen ihre Altäre im Heiligtum der Ortsgöttin auf.“
Die Bonner Geschichtsprofessorin Dr. Annette Kuhn schrieb über die Ursprünge des Aufanienkults folgendes: „Wir gehen von der These aus, dass die Verehrung der aufanischen Matronen in Bonn auf ältere matriarchale Traditionen hindeutet, die in Bonn zur Zeit der römischen Besetzung fortwirkten und die bei der Ausübung der unterschiedlichen Göttinnenkulte in Bonn, zu denken ist auch die Verehrung der Isis und Kybele, im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in Bonn ihren Ausdruck fanden.“16
Der Matronen-Beiname Aufania (wahrscheinlich a-u-fania ausgesprochen) ist vermutlich germanischen Ursprungs und wird sowohl als topischer als auch das Wesen der Göttin beschreibender Name angesehen. Von den vielen Deutungen seien nur einige genannt: Ahnfrauen, Glück spinnende, freigebige Ahnmütter; Überflussgebende. Außerdem wurden die aufanischen Matronen als Frühlingsgöttinnen – Öffnende - gesehen. Franz Cramer deutete 1913 die Aufania als die Emporbringenden und Aufnehmenden und ergänzte: „Es sind also gute Geister, die die Gedrückten aufrichten, die Hoffnung beleben, den Vertrauenden emporheben und ihm Erfüllung bringen.“17
Etymologische Forschung fand folgende Erklärung für Aufania: „Ähnlich [wie Afliae] lassen sich die berühmten Aufaniae als „die Hohen“ oder „die Erhabenen“ deuten (unter Berücksichtigung der Ablautreihe iu (eu) – auf – u, in Verbindung mit Ufan, ofan, ahd. obana = oben, hochgelegen).18
Hingewiesen sei auch auf das keltisch – romanische Wort „aufere für opfern, lat. aufero = forttragen, wegnehmen. Mit der Opferung gibt man ein Gut weg, man schenkt es den Göttern, dem Gott.“19 Die Aufania könnte also die Gottheit sein, der man Opfer bringen muss und die diese Gaben annimmt und fortträgt.
Als topischer Name wird Aufania von au-fanja abgeleitet und mit „abgelegenes Fenn“ (Moor) übersetzt, womit sich eine Wortverbindung zum Hohen Venn der Eifel und zum Venusberg in Bonn ziehen lässt.20
Aufania wird aber auch als Variation zu dem Namen der Erdgöttin Ambede aus der Trinität Ambede-Worbede-Wilbede gesehen. Mit der Mondgöttin Wilbede wird der Matronenbeiname Fachinehae (siehe Zingsheim) in Verbindung gebracht. Bei Deutung solcher Art könnten die Matronen-Beinamen besondere Schwerpunkte der Verehrung der Göttinnen signalisieren und Hinweise auf die Sonnen- und Mondausrichtung ihrer Kultplätze geben. Entsprechende Feiern können an den Sonnen- und Mondfesten begangen worden sein. Die Silbe Fa in Aufania weist bereits auf die nachbarlichen fachinehischen Matronen hin.
Die Beneficiarier und die Bonner Legion
Soweit die Inschriften auf den Matronenweihesteinen von Nettersheim zu entziffern sind, fungierten hier als Stifter ausschließlich Beneficiarier (lat. bene=gut, facere=machen). Diese altgedienten Soldaten waren Söldner, die aus aller Herren Länder stammen konnten. Lehner erklärte 1918 den Stand dieser Legionäre wie folgt: „Beneficiarier sind Soldaten, welche durch einen höheren Offizier von gewissen Diensten befreit sind (Gefreite). Sie wurden, namentlich in späterer Kaiserzeit, als eine Art Landgendarmen zum Aufsichtsdienst über den Straßenverkehr und dergleichen verwendet, weshalb sie häufig an wichtigeren Straßenkreuzungen stationiert waren.“ In einer Fußnote ergänzt Lehner: „Die Funktionen der Beneficiarier waren sehr mannigfaltiger Art.“ In weiteren Berichten werden die Beneficiarier beschrieben als „Legionäre in gehobener Stellung“, die Wache bei ihren Vorgesetzten und andere Ehrendienste zu leisten hatten, sowie als „unterschiedliche Funktionsträger“.21
Neuere Forschungen kommen zum folgenden Schluss: „So handelte es sich einerseits bei diesem Personenkreis bis zur Wende vom 3. zum 4. Jh. zweifelsfrei um Angehörige des römischen Heeres, die innerhalb der militärischen Hierarchie einen genau definierten Rang innehatten; andererseits repräsentierte die zahlenmäßig größte Gruppe dieser Soldaten ein wichtiges Element der römischen Provinzialadministration.“22
Von einem vorgesetzten Statthalter wurden sie zu ihrer jeweiligen Dienststelle beordert. So finden wir auf manchen Matronenstein den Hinweis „im Dienste des Statthalters…“.
In Nettersheim vermutete man eine Station der Beneficiarier an der „Steinrütsch“ im Urfttal südöstlich der Görresburg. Eine eindeutige Straßenstation konnte zunächst nicht nachgewiesen werden, doch die Flurbezeichnung „Alte Gasse“ wies bereits 1909 auf eine alte Straßenführung hin. Neue Untersuchungen ergaben 2009, dass eine Römerstraße direkt an dem Tempel „Görresburg“ vorbeiführte. Neben der Straße und einer eventuellen Straßenkreuzung mehrerer Straßen im Tal werden die Beneficiarier aber auch das Gebiet beschützt haben, in dem sie ihre Visitenkarte auf zahlreichen Weihesteinen hinterließen: Das Heiligtum der Matronae Aufaniae.
In der Regel dauerte eine Stationierungsperiode sechs Monate. Falls ein Beneficiarier an ein und demselben Ort seinen Dienst mehrmals ableistete, so konnte er das mit dem Zusatz „iterata statione“ kennzeichnen. Auf einem Nettersheimer Matronenstein war dem Stifter Marcus Pettronius Patroclus der Vermerk wichtig, dass er zum zweiten Mal (oder wiederholten Mal) bei den Matronen auf Posten war: iterata statione. Wie bereits erwähnt, war er auf diesen „Posten“ anscheinend sehr stolz.
Es spricht für die große Beliebtheit und Macht der Matronen, dass die Beneficiarier diesen Göttinnen huldigten: „Für die kulturellen Verhältnisse der niedergehenden Kaiserzeit ist es von hohem Interesse, dass die Benificiarii, welche sonst dem Jupiter und dem genius loci ihre Weihungen darzubringen pflegen, hier sich zu dem einheimischen Matronenkultus bekennen.“23
Die Landgendarmerie rekrutierte sich hauptsächlich aus altgedienten und bewährten Soldaten der einheimischen Bevölkerung, seltener wurden Römer zu diesem Dienst herangezogen. Die Stifter der Weihesteine stellen sich oft als römische Bürger dar, die germanischen und keltischen Ursprungs waren: „Auch wenn viele Bewohner Niedergermaniens Namen in der charakteristischen römischen Form mit Vornamen (praenomen), Familiennamen (gentilicium), Zunamen (cognomen) und der Nennung des Vaters trugen, schimmern meist noch einheimische Namenselemente durch.“24
In Bonn stammen von 36 Aufanien-Weihungen 16 von Offizieren und Soldaten der Minerva I, vier davon von dessen Frauen. Auch der Stifter des Aufaniensteins von Köln war ein Legionär der Bonner Minerva. Den Matronenstein in Frankreich hat ein Tribun der Bonner Minerva I anfertigen lassen. Da es in Bonn und Nettersheim Soldaten der gleichen Legion waren, die die aufanischen Göttinnen verehrten, erkannte man nach den Bonner Funden von 1929 die „Verkettung Bonns mit dem Hinterlande der Eifel“.25
Es waren nicht nur dieselben Göttinnen und die Soldaten der gleichen Legion, sondern die Weihungen fielen auch in den gleichen Zeitraum. Der älteste Stein von Bonn – und von allen Aufaniensteinen – stammt aus dem Jahr 164 n. Chr., der Jüngste aus dem Jahr 223.26 (In Jülich geben jedoch einige Matronenfragmente einen Hinweis auf eine frühere Bildsetzung.)
Durch die Nennungen römischer Kaiser, Konsuln oder Statthalter errechnete Lehner für die Nettersheimer Matronensteine folgende Datierungen: Die Zeit 205/208, 212/222 sowie die Jahre 196, 218, 227 und 237. Diese Angaben wurden in späteren Jahren zwar mehrmals revidiert, aber es blieb im Großen und Ganzen die Zeit zwischen Ende des zweiten und der Mitte des dritten Jahrhunderts bestehen, also fast der gleichen Zeitspanne wie in Bonn. Diese Datierungen bescheinigen zwar eine Blütezeit des Aufanienkults bei den Legionären und Beneficiariern sowie eine Hochkonjunktur der Steinsetzung, sagen aber nichts aus über die Verehrung der Matronen und die Nutzung ihrer Tempel bei der einheimischen Bevölkerung. Die Matronen fanden vor und auch nach dieser Zeit Verehrung.
In Bonn waren die Stifter der Matronensteine hohe Persönlichkeiten und entstammten Kreisen des höheren Beamtentums und des equestrischen Adels (Reiterstand). Unter den Dedikanten von Bonn finden wir den obersten Befehlshaber sowie einen Legionspräfekten der Bonner Garnison. Aus Köln setzten ein Stadtkämmerer (Vettius in Bonn) und ein Stadtrat den Matronen einen Weihestein. Im „Hinterland“ nimmt die Prominenz deutlich ab. Aber immerhin war Tiberius Claudius, der auf dem Grundstein einer kleinen Cella von Nettersheim genannt ist, ein bekannter Mann. Es wird ihm eine „Minuzipial- und Provinzialkarriere“ zugesprochen. Außerdem wird er als „religiös außerordentlich aktiv“ charakterisiert, denn außer in Nettersheim erscheint er als Stifter eines Aufaniensteins in Bonn, eines Jupiter-Altars in Köln und einer Herkules-Curie in Holzweiler, Kreis Heinsberg.
Trotz dieser „Prominenz“ ist aber davon auszugehen, dass die Matronen überwiegend von den einfachen Bewohnern der Siedlungen um Hilfe und Schutz angefleht wurden.
Die Anlage des Tempelbezirks
Die Ausgrabung auf der Görresburg im Juni und Juli 1909 legte die gesamte Anlage frei. Es zeigte sich, dass der Tempel nicht wie andere römische Verehrungsstätten während der Christianisierung zerstört worden war, sondern im Laufe der Jahrhunderte verfallen war. Als Vorteil erwies es sich außerdem, dass die Franken bei ihrer Landnahme den gallo-römischen Vicus nicht übernahmen, sondern eine neue Siedlung im heutigen Ortskern von Nettersheim anlegten.
Nach den Ausgrabungsarbeiten auf der Görresburg hatte man einen uralten Grundriss eines heiligen Raums und einen „besonders gepflegten Tempel in einer abgelegenen Berglandschaft“ vor Augen. Lehner beschrieb 1910 in seinem Ausgrabungsbericht den Tempelhof wie folgt: „Drei annähernd quadratische einräumige Gebäude von geringer Ausdehnung, sämtlich nach Osten geöffnet, stehen in einem ebenfalls quadratischen und ebenso orientierten ummauerten Hofraum, der auf der Ostseite den Haupteingang und in der Südwestecke noch ein kleineres Nebenpförtchen hat.“
Der durch die Umfassungsmauer eingefriedete Hofraum erwies sich als ein etwas verschobenes Quadrat. Die Nord- und Südseite waren je 26 Meter lang. Die Ostseite maß 26,90 Meter, die Westseite 24,67 Meter. Die Umfassungsmauer war wahrscheinlich mit Quadern abgedeckt. Einsatzlöcher und viele Eisennägel deuten auf ein Holzgitter hin. An der Südostecke zeigten ein pfeilerartiger Eckvorsprung mit breiteren Fundamentunterlagen und eine teilweise Verstärkung der Südmauer, dass die Mauer an dieser Stelle von einem größeren Pfeiler flankiert gewesen war. An den anderen Ecken gab es keine Hinweise für analoge Pfeiler.
Der Haupteingang befand sich an der Ostseite der Hofmauern, „nicht in der Mitte dieser Seite, sondern ziemlich genau dem Eingang des Hauptgebäudes A gegenüber. Die Mauer war gerade an dieser Stelle besonders schlecht erhalten, doch ließ sich noch ziemlich sicher feststellen, dass der Eingang 4,40 Meter breit war. Man glaubte dort sogar noch eine leichte Bekiesung des hinein führenden Weges erkennen zu können.
Neben diesem Haupteingang gab es den schon erwähnten rückwärtigen Durchlass: „Ganz unzweifelhaft aber hat der Hof noch ein schmaleres Hinterpförtchen von 2,10 Meter Weite an der Südwestecke, die gut erhaltenen Ende der West- und Südmauer zeigten dort nämlich scharfe Mauerköpfe.“
Innerhalb des ummauerten Hofes wurden drei kleine “bescheidene“ Räume, Cellae, freigelegt, die zur gleichen Zeit innerhalb des Temenos (Tempelbezirks) bestanden hatten. Die größte Cella, die als Hauptheiligtum angesehen wurde, war fast genau quadratisch (6x6 m): „Das Mauerwerk ist aus flüchtig zugerichteten Kalkbruchsteinen mit viel Kalkmörtel aufgebaut. Nach der sechsten Schicht von unten folgte eine Durchschussschicht aus zwei Ziegellagen.“ Diese rote Ausgleichsschicht, gleichzeitig auflockerndes Zierelement, war seit dem Palastbau des Kaisers Hadrian (117-138) auf dem Tivoli bei Rom allgemein üblich geworden und ist auch vom Trierer Kaiserpalast bekannt. Die Cella war mit einem Ziegeldach gedeckt, von dem sich viele Reste fanden.
Alle aufgefundenen Matronensteine lagen außerhalb dieser größten Cella, aber wohlbehütet unter Dach und Fach. Wahrscheinlich waren sie hier und rund um die Cella aufgestellt. Von einem vermuteten großen Kultbild gab es keinerlei Spuren, doch von der Vorstellung einer großen Skulptur „im Haus der Gottheit“ mochten die Archäologen sich nicht trennen und so argumentierten sie, dass das Kultbild entweder vor Aufgabe des Heiligtums entfernt wurde oder dass es aus vergänglichem Material bestand (obwohl alle Weihealtäre aus Stein waren). Zumindest konnte Lehner sich in seiner Fantasie für ein imaginäres Matronen-Kultmonument begeistern: „Und wer nun eintreten durfte in die Kapelle, den blickten von der Hinterwand her, auf gemeinsamer Bank thronend, die drei Frauen freundlich entgegen, die, wie Frauen aus dem Volk gekleidet, keine feierliche Würde zur Schau trugen, sondern mit mütterlicher Sorge dem kleinen Mann Haus und Hof, Weib und Kind, Herd und Ernte schützten und seine kleinen Anliegen teilnahmsvoll anhörten.“
Gefunden wurde der Grundstein dieses Tempelchen, der den Tempelbezirk als Heiligtum einer Dorfgemeinde auswies (siehe unter Ausgrabung und Funde). Diesen Grundstein hat man zuerst in der größten Cella lokalisiert, logischer wäre es allerdings, dass der Stein in der Umfassungsmauer am Haupteingang eingemauert war, was neuere Untersuchungen vermuten lassen.
Ein weiterer aufgefundener Grundstein mit dem bruchhaften Namen Mat(ronis) Aufa(niabus) Claud(ius) Ju(suts?) wird in der mittleren Cella eingebaut gewesen sein. Diese Cella war kleiner und einfacher als ihre große Schwester, hatte Quadratform, war wie die große Cella nach Osten geöffnet und hatte eine durchmauerte Schwelle. Die Archäologen glaubten in diesem Tempelchen das Heiligtum des genius stationis, des Schutzgeistes der römischen Station, zu erkennen.
Dem dritten Kapellchen wurde die geringste Bedeutung beigemessen: „Der kleinste und unansehnlichste Raum lag etwas weiter nach Südwesten zurück. Er ist wieder ungefähr von quadratischer Grundform und wieder nach Osten orientiert, scheint aber im Aufgehenden nur von drei Mauern flankiert gewesen zu sein, während die ganze Vorderseite offen und nur mit einer durchgemauerten Schwelle versehen war.“ So ganz unansehnlich war dieser Raum allerdings nicht, denn „die Besonderheit der geradezu winzigen dritten Cella ist ihr Baumaterial. Der eckige, u-förmige Bau ist ausschließlich mit sorgfältig ausgewählten gleichartigen Grauwacken ausgeführt.“27 Mit diesen Grauwacken wurde 1976 die Rekonstruktion dieses Tempelchen vorgenommen.
Auf die einstige gallo-römische Siedlung wiesen außerhalb der Tempelanlage einige Gebäudereste hin. Diese führten hauptsächlich in südliche Richtung und erfassen die Gemarkung „Alte Gasse“ und das beiderseitige Tal der Urft (Urftaue, Steinrütsch, Wellerberg). In einem trockenen Sommer lassen sich unterirdische Grundmauern am Gras- bzw. Getreidebewuchs mit bloßem Auge feststellen. Eifrigste „Ausgräber“ von kleinsten Partikelchen aus der Vergangenheit sind auf den dortigen Wiesen die Maulwürfe, die mit archäologischer Akribie die Grenzen der Besiedlung kenntlich machen.
Die unmittelbar südlich der Tempelanlage angrenzenden, stark abweichend orientierten Gebäude wurden als zum Vicus gehörend eingeordnet. Nicht der Tempelbezirk, sondern diese Baureste liegen auf dem relativ ebenen Kuppenbereich. Lehner: „Dieses Gebäude kann ein Schatzhaus oder eine Wohnung des Tempelhüters sein.“
Aufgedeckt wurde auch ein Hohlweg, der vom Schleifbachtal aus zu der Pilgerstätte führte und heute wieder begehbar ist. Zwei Querschnitte zeigen, dass der Weg in römischer oder sogar vorrömischer Zeit noch erheblich markanter als heute ausgeprägt gewesen sein muss. An der gegenüberliegenden Seite des Schleifbaches führte ein Weg ebenfalls in Form eines Hohlweges von den dortigen Höhen. Dieser Hohlweg ist heute nur noch zu erahnen, vor einigen Jahrzehnten muss er auffälliger gewesen sein: „Jenseits des Schleifbachtales geht eine solche Einsenkung wieder in die Höhe, zu beiden Seiten begrenzt von Ziegeln und Kleinaltertümern.“28
Nach Abschluss der archäologischen Ausgrabungen auf der Görresburg im Jahre 1909 schüttete man die Reste mit Erde zu und ließ Gras über die Fundstelle wachsen. Das sei das beste Konservierungsmittel, argumentierte das Provinzialmuseum damals. Der örtliche Eifelverein, der den Schutz über die Anlage übernahm, beschwerte sich mehrmals, dass man dem Dorf Nettersheim „seine Heiligtümer entführt“ habe und stellte Anträge an das Provinzialmuseum, den Tempel zu rekonstruieren, doch stets ohne Erfolg. Erst 1976/77 wurde die Anlage im Rahmen eines allgemeinen Strukturverbesserungsprogramms durch das Landesmuseum Bonn in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Nettersheim und dem Landeskonservator Rheinland erneut freigelegt und die „wesentlichen Elemente“ rekonstruiert. Die flache Aufmauerung erfolgte entsprechend den Originalbefunden mit Kalkbruchsteinen und Grauwacken, zu dem die in größeren Mengen vorhandenen Originalsteine mitverwendet wurden. Für den roten Ziegelstreifen in der großen Cella wurde eine Kombination von echten römischen Ziegeln und Imitationen verarbeitet. Die Sicherung gegen Witterungseinflüsse erfolgte auf den Mauerzügen durch Abdeckung mit Rasensoden, die allerdings im Laufe der Jahre immer mehr abgetragen wurden.
Von den drei gut erhaltenen Matronensteinen wurden Kopien als Anschauungsmaterial vor der großen Cella aufgestellt: „Diese können zwar nicht genau der alten Platzierungen entsprechen, tragen jedoch für den Betrachter sicher dazu bei, die Bestimmung der Tempel als heilige Stätten besser zu verstehen.“29
Man vermutet, dass es vor Bau des steinernen Tempelbaus an derselben Stelle einen umfriedeten trapezförmigen Kultplatz mit einem Baum gab, „für den ein markanter Landschaftspunkt wie die ‚Görresburg’ ideal war.30
Deutung der Anlage
Die stets pragmatischen Römer übernahmen nicht nur die Gottheiten der Einheimischen, sondern mit Gewissheit auch deren Kultplätze, wobei sich allerdings die Frage stellt, ob die Druiden, die ihre Religion streng geheim hielten, ihre allerheiligsten Plätze so offen zeigten, dass Eroberer diese übernehmen konnten. Gerne benutzten die Kelten ein Ablenkungsmanöver, das sie den Tieren in der Natur abgeschaut hatten. Instinktiv locken Tiere Menschen von den Brutstätten und Aufenthaltsplätzen ihrer Jungen weg und laufen zum Beispiel in eine andere Richtung, wenn sie Gefahr wittern.
In keltischen Siedlungen gibt es Anzeichen dafür, dass die Menschen an einem bestimmten Platz einen Stein hinstellten und diesen verehrten, um von dem höchsten Heiligtum an einem ganz anderen Platz abzulenken. Der Matronentempel in Nettersheim war sicherlich ein heiliger und wichtiger Kultplatz, ein geheimes Heiligtum der Kelten war er gewiss nicht; dieses dürfte aber in der Nähe gewesen sein.
Die quadratische Form der Anlage kann als typisch für Gallien angesehen werden und bescheinigt einen keltischen Vorläufer, denn die Römer bevorzugten den langgestreckten, rechteckigen Grundriss der hellenisch-römischen Art für ihre Tempelbauten. Die Urbevölkerung und die Kelten verehrten ihre Gottheiten in der Natur, friedeten jedoch Kult- und Opferstätten durch Hecken ein. Die Römer übernahmen diese Plätze und bauten sie in Stein aus. Dort, wo einst heilige Bäume standen, errichteten sie oftmals steinerne Kapellen.
Da die Matronen eng mit Bäumen und Obstfrüchten verbunden sind, wären ehemalige Baumheiligtümer für die drei Göttinnen durchaus vorstellbar. In Nettersheim widerspricht die Höhenlage der Görresburg allerdings dieser Vorstellung. Vorwiegend sind es Sträucher und Ginsterbüsche, die dort wachsen.
Bei der Ausgrabung 1909 bestand die Hochfläche der Görresburg aus Ödland, teilweise aus Acker- und Wiesenland. Jahrzehnte vorher waren dort mehrmals Meliorationsarbeiten zwecks Entsumpfung vorgenommen worden. Viel eher als ein Baumheiligtum ist auf der Görresburg ein Steinplatz vorstellbar, wobei die jeweiligen Stellen, an denen später die Tempelchen errichtet wurden, bei den Urbewohnern, Kelten oder Germanen durch einen besonderen Stein markiert waren. Waren es vielleicht Riesensteine, Menhire? Immerhin hieß eine Flur jenseits des Schleifbachs noch 1809 „Riesenstein“. Auch kann die Mauerverbreitung in der Südostecke des Tempels einen Menhir als Vorläufer des Pfeilers getragen haben.
Der Tempelbezirk auf der Görresburg ist wie viele Kultplätze und spätere Kirchen genau Ost–West ausgerichtet. Dies war für mich der Anlass, immer wieder dort Sonnenuntergänge und – nicht ganz so oft – Sonnenaufgänge zu beobachten. Zur Tag- und Nachtgleiche bei Frühling- und Herbstbeginn, wenn die Sonne genau östlich aufgeht, fällt das erste Sonnenlicht in den Tempelbezirk hinein. Einer der abendlichen Tempelbesuche wurde von einem unerwarteten Erfolg gekrönt. Es war ein wunderbarer Sommerabend und die Sonne ging leuchtend unter, von der Mitte der größeren Cella aus exakt über die West-Nord-Ecke dieses Tempelchen und der Hofmauern. Der Tag: Die Sommersonnwende, also der Sommeranfang, der längste Tag des Jahres.
Lehner hatte geschrieben, dass er in der großen Cella außer dem Bauschutt nichts gefunden hatte. War dieses verehrungswürdige „Nichts“ die Sonne gewesen? Hatte hier in der vorrömischen Zeit eine unbehauene Steinsäule die Strahlen der untergehenden Sonne aufgefangen? Hatten auch die Römer durch einen Spalt in der West-Nordecke der großen Kapelle das Sonnenlicht am Tag der Sommersonnwende eingefangen und das Ereignis gefeiert? Oder hatte der Pfeiler in der Südostecke die letzten Sonnenstrahlen zu Sommerbeginn aufgefangen? Hatte die Tempelanlage wie viele archaische Kultanlagen (Stonehenge, Externsteine) zur Berechnung des Sonnen- und Mondjahres gedient? Dann wäre die Görresburg ein Sonnen- und Mondbeobachtungsplatz gewesen, ein anschaulicher Naturkalender.
Folgender Textausschnitt macht Ursprung und Zweck solcher Naturplätze deutlich: „Mit dem Beginn des Ackerbaues ergab sich die Notwendigkeit eines Kalenders, um mit Rücksicht auf den Wechsel der Jahreszeit zur rechten Zeit ackern und säen zu können. Den beobachtenden Menschengeist musste sehr bald klar werden, dass der Wechsel der Jahreszeiten in einigem Zusammenhang mit dem Wandel von Sonne, Mond und Sternen steht… Mit Hilfe eines in der Landschaft vermarkteten Kalenders konnte der Bauer die Aussaat zur rechten Zeit vornehmen, ohne durch die oft schwankende Wärme und Witterung getäuscht zu werden.“31
Vorstellbar wurde durch meine Beobachtung, dass auf dem Heiligtum, das der Verehrung der aufanischen Matronen diente, die durch den Sonnenstand festgelegten Jahreszeitenfeste entsprechend gefeiert wurden, sicher der Beginn und das Ende des Bauernjahres zum Frühling- und Herbstbeginn, aber mit Gewissheit auch das Fest der hohen Sonne, der Sonnenwende zum Sommeranfang. Vielleicht hielt der Platz in der kalten Jahreszeit seine Winterruhe, denn die exponierte Lage der Görresburg ist im Gegensatz zu den Tälern äußerst kalt und windgepeitscht. Regelmäßige Besucher sind sich sicher, dass der Kultplatz kein Winterplatz war.
Betritt man heute die Tempelanlage durch den Haupteingang, so sind von dort und von der Nordostseite aus nur die Mauerreste des größten und mittleren Kultraums zu sehen. Von der Nordwestseite ist die mittlere Cella dem Blick entzogen. Nur von der südöstlichen Pfeilerecke erkennt man die drei Tempelchen. Auch wenn man sich diese in ihrer ehemaligen vollständigen Größe und den jeweiligen ursprünglichen Proportionen vorstellt, würde aus den verschiedenen Blickwinkeln jeweils ein Kultraum verdeckt bleiben? Zufall oder eine bewusste Bauweise, deren tiefer Sinn uns verborgen bleibt? Es könnte die sichtbare und unsichtbare Welt dargestellt sein oder ein Hinweis auf die Vollmond- und die Dunkelmondzeit geben.
Beachtung soll noch das „Hinterpförtchen“ des Kultbereichs finden. Meist waren Tempelräume total geschlossen. Der Ausgang – von eiligen Touristen meist als Eingang benutzt – kann zwar ganz profan als „Sakristeitür“ gedient haben, kann aber auch – da dem untergehenden Licht nach Westen zugewandt – zum Hinaustragen der Toten bestimmt gewesen sein. Die mittlere Cella wird gerne als Geburtsraum gesehen. Die Hauptcella kann als heiliger Raum für zeremonielle Initiationsriten gedient haben, zum Beispiel wenn ein junges Mädchen zur Frau, eine Frau zur Mutter und schließlich zur weisen Alte wurde. Dann hätte die kleinste Cella der Aufbettung der Toten dienen können.
Betont sind im Nettersheimer Tempel die Schwellen zu den kleinen Räumen. Die Schwelle eines Tempels galt in vielen Kulturen als heilig. Es bedurfte einer gewissen Reinigung und Vorbereitung, bevor diese überschritten werden durfte, wozu oftmals ein hoher, großer Schritt nötig war. Im übertragenen Sinne kann die Schwelle einen neuen Lebensabschnitt symbolisieren.
Die Lage des Tempels in Natur und Landschaft
Ehemalige Kultplätze wurden nicht wahl- und planlos irgendwo in der Landschaft platziert, sondern ihre Lage wurde von den Naturvölkern sehr sorgfältig ausgesucht. Welche Kriterien dabei beachtet wurden, können wir heute nur ansatzweise erkennen.
Wasser musste in der Nähe sein, möglichst eine heilige Quelle mit heilendem Wasser. Für Reinigungs-, Heilungs- und Initiationsriten, aber auch als Lebensspender selbst hatte das Wasser eine kultische Funktion. Bei der Standortwahl des Matronentempels bei Nettersheim blieben die Quellen und Bäche der nahen Umgebung sicher nicht unberücksichtigt.
Der Hügel „Görresburg“ liegt im Delta von Urft und Schleifbach. In der Sumpffläche am Hohlweg befindet sich eine Sickerquelle, deren Wasser heute unter dem Talweg in den Schleifbach geleitet wird. Diese Quelle und das sumpfige Gelände dort waren zur Zeit der Tempelnutzung sicher von Bedeutung. Im Süden des Heiligtums der aufanischen Matronen fließen kleine Quellwasser in die Urft.
Die nordöstlichen Hänge jenseits des Schleifbachtals heißen „Auf Rest“ und „Resterberg“ (mundartlich „Op Reis“ und „Huuh Reis“) Die alte Bezeichnung „Riesenstein“ ist nicht mehr bekannt und ein auffälliger Stein ist nicht mehr vorhanden. Durch einen Taleinschnitt ist die Gemarkung „auf Rest“ westlich von einem Hügelhang getrennt, der auf der oberen Spitze „Galgenstrunk“ heißt. Da es in der gesamten Nettersheimer Geschichte keinen Hinweis auf eine Richtstätte gibt, muss die Etymologie dieses Namens anderweitig ermittelt werden.
Eventuell hat an diesem Platz einst der Stumpf (Strunk) einer galgenförmigen Steinkonstruktion gestanden. Solche Formationen können Ursprung für manchen „Galgennamen“ sein. In Mexiko gibt es einen Dolmen, bei dem zwei parallel aufragende Naturfelsen im oberen Teil mit einem Querbalken verbunden sind. An bestimmten Jahrestagen wirft dieses Steingerüst einen dreieckigen Schatten auf einen in etwa vierzig Meter Entfernung stehenden Balken eines Sonnenheiligtums. Der Bevölkerung war die steinalte Nutzung nicht bekannt. Sie benannte die Vorrichtung nach deren Form „Inka-Galgen“, obwohl sie weder etwas mit den Inkas noch mit einem Galgen zu tun hatte.“32 Ein solch dolmenartiges Gebilde kann man sich auch auf dem Galgenstrunk gut vorstellen.
Hügel und markante Hügelformen spielten bei der Auswahl eines Kultplatzes eine Rolle. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zwischen zwei Erhebungen wurden beachtet. Im Schleifbachtal wird das Schutzverhältnis der drei Göttinnen widergespiegelt. So wie die äußeren Matronen ihre junge Göttin beidseitig gegen alles Böse abschirmen, so geben die Hügelhänge dem Bach Schutz und Schirm. Von den nördlichen Höhen des Schleifbaches aus ist das gegenüberliegende Terrain der Görresburg mit den westlich angrenzenden Flurstücken „Auf der Schnur“ und „Auf der Heide“ als ein einziger Bergrücken erkennbar. Sicher galt einst diese ganze Hügellandschaft als zusammenhängender Kultkomplex mit mehreren, unterschiedlich genutzten Plätzen. Die höchste Erhebung wird zur erhabensten Transzendenz geführt haben.
Von einem Kultplatz aus musste man einerseits einen freien Weitblick haben, andererseits musste aber auch der heilige Bezirk als solcher bereits aus der Ferne zu erkennen sein. Obwohl die Tempelanlage in Nettersheim nicht auf dem höchsten Punkt des Geländes liegt, ist sie doch ein regelrechter Blickpunkt. Die niedrigen Mauern sind weit zu sehen, die einstigen Tempel, Bäume oder Steine müssen demnach noch weiter geleuchtet haben. Wichtig war bei der Nutzung eines Platzes als Verehrungsstätte der Götter, dass eine visuelle Verbindung zu anderen Orten und Kultstätten möglich war, so dass das ganze Land in einer geistigen Verbindung miteinander stand. Noch im Mittelalter schuf man durch Wallfahrten quer durch das Land eine solche flächendeckende, religiöse Einbindung aller Dörfer und Städte.
Professor Heinz Kaminski (1921-2002), Gründer der Sternwarte Bochum, hat am Beispiel Wormbach im Sauerland diese Sicht- oder Visurlinien eingehend erforscht: „Ganz offensichtlich haben diese Visurlinien schon in früher Zeit die Qualität von Kultlinien besessen, an denen sich die Besiedlung in möglichst enger Zuordnung orientierte. Der Grund für dieses Ordnungsprinzip ist darin zu sehen, dass in damaliger Zeit eine Visurlinie nicht nur eine im heutigen Sinne abstrakte geodätische (landvermessende) Linie war. Diese Linien, die von dem Kultzentrum ausgingen, waren auch geistige Verbindungen im religiös-mythischen Wertsinne, d. h. Kultlinien.“33
Pilgerpfade können den Visurlinien gefolgt sein. Ebenfalls können diese Sichtlinien als Nachrichtennetz genutzt worden sein, denn wie die Kelten besaßen auch die Römer ein Warn- und Informationsnetz, das mittels Feuer oder Spiegelglas bei Kriegsgefahr eine Warnung weiter geben konnte. Innerhalb von Stunden war auf diesem Weg eine Nachrichtenübermittlung von der Nordküste bis ins Landesinnere möglich. In Nettersheim sind diese Verbindungen durch geologische Besonderheiten gut vorstellbar.
Neben dem optischen Nachrichtennetz gab es ein akustisches Informationssystem. Mittels Stimme oder mit einfachen Klanginstrumenten konnte man Wachtposten in Rufweite erreichen. Kultplätze waren diesem auditiven Verbundnetz angeschlossen. Da ist es nicht verwunderlich, dass mancher Kultplatz ein regelrechter Hörplatz ist, an dem Geräusche aus weiter Ferne klar und deutlich zu empfangen sind.
Die Görresburg verbirgt als historische Anlage auf geheiligtem Boden weiterhin einige ihrer Geheimnisse. Umfangreiche Grabungen (wie sie 2009/2010/2011 geplant sind) könnten sicher neue Erkenntnisse bringen, doch einiges wird wohl für immer im mythischen Dunkel vergangener Zeiten verborgen bleiben. Die wirklichen Geheimnisse des Kultplatzes werden sicher für immer geheim bleiben.
Quellenangaben
- 1 Nikola Reinartz: Die „Krummel“ von Nechtersheym, ein Eifler Rittergeschlecht.
- In: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, 1941, Seite 9
- Siehe auch www.nikola-reinartz.de
- 2 Festrede Lehrer Jaax beim 25-jährigen Eifelvereins-Jubiläum in Nettersheim 1934, Archiv Eifelverein Nettersheim, siehe auch 100 Jahre Eifelverein Nettersheim 2009
- 3 Franz Cramer: Römisch-germanische Studien, Breslau 1914, Seite 174
- 4 Josef Hagen: Das Matronenheiligtum auf der Görresburg bei Nettersheim.
- In: Eifelvereinsblatt Juni 1911
- 5 C. A. Eick: Die römische Wasserleitung aus der Eifel nach Köln, Bonn 1867
- 6 Sophie Lange. Eines Dichters Wanderungen. Wissenswertes und Heiteres aus einem alten Reisebuch von Hermann Ritter.
- In: Jahrbuch 2006 Kreis Euskirchen, Seite 118
- 7 Hans Lehner: Das Heiligtum der Matronae Aufaniae.
- In: Bonner Jahrbücher (BJ) 229, 1910, Seite 309
- 8 H. Lehner: Die antiken Steindenkmäler des Provinzialmuseums in Bonn, 1918
- Nr. 281
- 9 Antonius Jürgens: Zur Eröffnung restaurierter archäologischer Denkmäler in Nettersheim.
- In: Das rheinische Landesmuseum Bonn, Sonderheft 1978, Bonn 1978, Seite 151
- 10 Klein: Weihestein aus Nettersheim, Eifel. In: B J 191, 1897, Seite 181
- 11 Wolfgang Spickermann: Germania Inferior, Tübingen 2008, Seite 192 (s. auch Seite 164 und 167) Ergebnisse aus der Dissertation von Frank Biller, 2005
- 12 B J 143/144, 1939, Seite 431
- 13 B J 186, 1986, Seite 612
- 14 Prof. Dr. Hans Lehner: Bericht über die Tätigkeit des Provinzialmuseums.
- In: B J 134, 1929, Seite 142
- 15 Wolfgang Spickermann: Germania Inferior. Religion der römischen Provinzen, Tübingen 2008, Seite 11
- 16 Annette Kuhn: 2000 Jahre Bonn zu Ehren der aufanischen Matronen – ein feministischer Geburtstagswunsch. In: Die Bonnerinnen, Bonn ist 2000, Bonn 1988, Seite 23
- 17 Provinzialschulrat Dr. Franz Cramer, Münster: Die „Aufanischen Mütter“.
- In: Eifelvereinsblatt Oktober 1913, Seite 231
- 18 Isabella Horn: Diskussionsbemerkung zu Ikonographie und Namen der Matronen.
- In: Matronen und verwandte Gottheiten, Köln 1987, Seite 156
- 19 Georg Andreas Bachem: Keltoromanisch im Gau Köln-Aachen, Köln 1968, Seite 61
- 20 Günter Neumann: Die germanischen Matronen-Beinamen.
- In: Matronen und verwandte Gottheiten, Köln 1987, Seit 114/115
- 21 Werner Eck: Niedergermanische Statthalter. In B J 184, 1984, Seite 115 22
- 22 Joachim Ott: Die Beneficiarier, Stuttgart 1995, Seite 61
- 23 Berichte über die Tätigkeit des Provinzialmuseums. In: B J 120, 1911, Seite 77
- 24 Heinz Günter Horn, Hg: Die Römer in Nordrhein-Westfalen, Seite 213
- 25 Dechant und Oberpfarrer des Bonner Münsters Johannes Hinsenkamp: Die Funde in der Bonner Münsterkrypta in ihrer Beziehung zur Eifel.
- In: Eifelvereinsblatt Februar 1929, Seite 21
- 26 Hans Lehner und Walter Bader: Baugeschichtliche Untersuchungen am Bonner Münster. In: B J 136/137, 1932, Seite 203
- 27 Antonius Jürgens: Grabungen und Restaurierung archäologischer Denkmäler in Nettersheim, Kreis Euskirchen. Sonderheft Januar 1977, Bonn 1977, Seite 88
- 28 Römerüberreste bei Nettersheim in der Eifel. In: Eifelvereinsblatt Januar 1926, Seite 9
- 29 Rheinisches Landesmuseum, Jahresbericht 1976. in: B J 179, 1978, Seite 723
- 30 Wolfgang Spickermann: Germania Inferior, Seite 192 und 67
- 31 August Henkes: Der Carosgau in der Eifel, Hannover 1934, Seite 33
- 32 Gottfried Kirchner: Im Schatten der Inkasonne, 1983, Seite 148
- 33 H. Kaminski: Die Götter des Landes Vestfalen, Fredeburg 1988, Seite 176