Erlebnisses eines Stadtkindes im [Ersten] Weltkrie

Fräulein Großknecht


Erlebnisses eines Stadtkindes im [Ersten] Weltkriege
Neue Folge von: Hinterm Pflug zur Kriegszeit
Herausgegeben 1917 vom Vaterländischen Frauenverein Trier-Stadt und Land
E.P. [Else Pfefferkorn]

Zum zweiten Mal hielt trotz des eisernen Ringen,
Der Lenz seinen Zug durch die blutige Welt.
Vereinzelt schon hörte man Vögelein singen,
Es keimte und sprosste in Wiese und Feld.
Da hat sich, als Primel und Veilchen erwacht,
Mein erstes Buch leis’ auf die Reise gemacht.

Wohl wusste es selber: es konnt’ nicht viel sagen,
Und schmucklos und derb war sein schlichtes Gewand,
Doch Kriegskindern ziemt es nicht, ängstlich zu zagen,
So zog es als Kriegskind denn mutig durchs Land.
Es sollte ja auch gar nichts anderes sein
Als ein kleiner bescheidener Sonnenschein.

Bald streckten sich gütige Händ’ ihm entgegen,
Um Hilfe und Stütze dem Erstling zu sein;
Der Freunde fand’s viele auf all seinen Wegen,
Manch’ Haus ließ es gastfrei und herzlich herein.
Und was es erbeten, das ward ihm gewährt:
Die Almosen hat man ihm reichlich beschert.

Doch gilt es der Wunden noch viele zu schließen,
Zu groß ist die Not, ach so schwer ist es schier,
Drum lasst es Euch, bitte ich, auch nicht verdrießen,
Wenn ich noch mal klopfe an Euere Tür.
Wie ihr mein erstes Büchlein freundlich aufgenommen
Sei Euch mein „Großknecht“ heute auch willkommen.


Es war im Herbst 1916. Die letzten warmen Tage verlebte ich zur Begleitung meines erholungsbedürftigen Vaters im Oberharz. Es war eine schöne Zeit des Beisammenseins, und der würzige Tannenduft der Wälder tat Leib und Seele wohl. Ein großer Teil der Kurgäste waren Feldgraue. Schwerkranke waren es ja nicht mehr; die meisten waren als Genesende aus irgendeinem Lazarett entlassen oder nur zu einer allgemeinen Erholung und Kräftigung ihrer Gesundheit dort. Aber fast alle trugen die Spuren einer überstandenen Leidenszeit. Wenn sie mit ihren zerschossenen Gliedern mühsam des Weges daher kamen, meinte ich in ihrem bleichen Antlitz die vorwurfsvolle Frage zu lesen: „Das tat ich für das Vaterland, was tust denn du?“
Da wurde es mir immer klarer, ich konnte nicht nach Karlsruhe, um dort kunstgewerblichen Studien obzuliegen, wie ich es mir eigentlich fest vorgenommen hatte. Ich konnte unmöglich ruhig hinter der Staffelei stehen, während deutsche Männer auf den Schlachtfeldern ihr Herzblut verströmten. Schienen doch alle Krieger von dem gemeinsamen Wunsche beseelt: „Ach, wären wir nur wieder draußen und könnten weiterhelfen!“ Ja, weiterhelfen, bis endlich der heiß ersehnte Friede kommt, das wollte ich auch. An Gelegenheiten dazu fehlte es wahrlich nicht. Zwar war ich nicht, wie Tausende deutscher Frauen und Mädchen dem Roten Kreuz beigetreten, doch ich hatte einen guten Willen und kräftige Glieder.
Wer von meinen freundlichen Lesern mein Büchlein „Hinterm Pflug zur Kriegszeit“ kennt, wird sich wohl erinnern, dass ich gleich zu Beginn des Krieges hinausging aufs Land und einer Frau aus dem Nachbardorf, deren Mann im Felde stand bei der Arbeit half. Fast anderthalb Jahre war ich bei ihr geblieben. Aber dann hatte man den Landleuten Kriegsgefangene zur Verfügung gestellt und zeitweilig auch Mannschaften aus Genesenden- oder Ersatzabteilungen. So war ich bei Frau Dietrich entbehrlich geworden.
Allein, allenthalben hörte man über den Leutemangel auf dem Lande klagen. Wer, wie ich, schon solch ein „praktisches“ Jahr hinter sich hatte… Kurzum, ich wollte mich aufs Neue der Landwirtschaft zur Verfügung stellen, diesmal jedoch in einem größeren Betrieb, wo über den eigenen Gebrauch hinaus erzeugt wird. Denn ich glaubte, mich dadurch im Interesse der allgemeinen Volksernährung noch nützlicher machen zu können.
Durch die gütige Vermittlung des Herrn Reichstagsabgeordneten Dr. R. und seiner sehr verehrten Gemahlin gelang es mir auch, an einen passenden Platz zu kommen. Freilich hieß es zunächst ein wenig abwarten, bis so eine Ackerwirtschaft gefunden sei. Ja, meine Geduld wurde auf eine ziemliche Probe gestellt, als ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne dass das ersehnte Schreiben eingetroffen wäre. Ich brannte doch so auf meine neue Tätigkeit.
Aber ein alter Bauer, dem ich voll stürmischer Begeisterung von meinem Vorhaben erzählte, sah mich lange ernst und treuherzig an. Dann klopfte er mir auf die Schulter: „Fräuleinchen, das war brav von Euch gedacht. Aber habt Ihr es Euch auch wirklich reiflich überlegt? Wisst Ihr, was es heißt, allein in die Fremde zu gehen, in ganz, ganz andere Verhältnisse? Bis jetzt seid Ihr doch jeden Abend heimgekehrt in Euer behagliches Elternhaus. Das hört jetzt auf, und Ihr werdet in der Fremde keinen Menschen finden, mit dem Ihr mal reden könnt über das, was Euch freut, zu Beispiel von Malerei und Musik. Die Bauern sind nur für das Nützliche, für brotlose Künste haben Sie keinen Sinn. Um ein hübsches Buch zu lesen, wie Ihr es gewiss manchmal gern tätet, werdet Ihr schwerlich jemals Zeit bekommen. Ungebildete, rohe Knechte und allerlei Mannsvolk, unter denen Ihr das einzige Mädchen seid, werden oft Euren einzigen Umgang bilden. Wenn Ihr da in Eurer Unerfahrenheit manche Ungeschicklichkeit und manchen Fehler macht, braucht Ihr nicht für den Spott zu sorgen. Glaubt mir’s, die Welt ist hart, es kümmert sie nicht, dass Ihr aus gutem Herzen heraus handelt. Und dann bedenkt doch: Der Winter steht vor der Tür. Frauen sieht man da keine mehr im Feld, aber für den Bauernknecht gibt’s keine Winterruhe. Er ist draußen bei jedem Sturm und Wetter, und wenn er wegen zu starkem Frost nicht pflügen kann, so sind sonstige Fuhren zu unternehmen oder es gibt andere Arbeit, für die man sonst keine Zeit hab. Aber einen Platz in der warmen Stube gibt’s nicht für den Bauernknecht. Darum, Fräulein, seid nicht so betrübt, dass sich noch nichts für Euch gefunden hat. Ich täte Euch raten: schreibt wieder einen artige Brief nach Karlsruhe, dass Ihr doch kommen wolltet. Fürs erste weiß ich noch - nicht weit von hier - eine Familie, die Euch brauchen könnte. Die Frau hat im Sommer Drillinge bekommen. Der Mann steht jetzt vor der Einberufung. Denen könnt Ihr noch acht oder vierzehn Tage helfen, aber dann geht getrost auf Eure Schule.“
So sprach der freundliche Mann. Langsamer, als ich gekommen, trat ich den Heimweg an. Das war nicht die Aufmunterung, die ich erwartet hatte. Aber später habe ich es ihm gedankt, dass er mir alles so nüchtern und hart vorgestellt hatte; denn als ich dann meinen Dienst antrat, habe ich es mit vollem Bewusstsein getan.
Zunächst half ich noch den Leuten in dem kleinen Bergdörfchen bei der Kartoffelernte und der Herbstsaat. Zu dritt arbeiteten wir auf dem Kartoffelfeld bei dem Waldabhang. Der Mann, seine Mutter und ich. Es war ziemlich raues Herbstwetter. Daher tat uns das Feuerchen in dem ausgetrockneten Graben recht gut, an dem wir uns lagerten und unser Mittagsbrot verzehrten. Sehr kunstvoll hatte der Mann einen Zaun von dürren Ästen gemacht und leere Kartoffelsäcke darüber gehängt, so dass diese halbkreisförmige „spanische Wand“ uns vor dem dreisten Wind, der uns das Feuerchen nicht gönnen wollte, schützte.
Immer näher kam der Tag heran, an dem der Mann sich stellen musste. Wir sahen ein, trotz des größten Fleißes würde die Herbstsaat bis dahin nicht erledigt sein. Darum war es das Beste, ich lernte säen und konnte so die Felder fertig bestellen. Bisher hatte ich das noch keinmal gedurft. So lange noch ein Mann aufzutreiben ist, überlassen die Bauern das Säen niemals einem „Weibsbild“. Aber in diesem Fall schien man mir Vertrauen zu schenken. Der Mann war nicht gar so ängstlich. „Nur frisch drauf los, es wird schon ins Stück fallen“, sagte er und hing mir den Kornsack um. Wie ich mich später gelegentlich eines kurzen Besuches mit stolzer Freude überzeugen konnte, ist dieses Korn sowie der Weizen, den ich, als ich allein war, streute, schön und gleichmäßig aufgegangen.
Die Leute in dem Weiler (im Ganzen umfasste er neun Häuser) wussten alle, dass ich demnächst sozusagen als Knecht in die Fremde ginge. Jeder wollte gern etwas Näheres darüber erfahren und jeder gab mir einen gut gemeinten Rat. Überhaupt, sie waren alle so nett! Der schenkte mir ein paar Pflaumen, jener ein paar schöne Georginen aus seinem Garten und einer sogar zwei richtig dicke Birnen, die er dank seiner Propfkunst an seinem Apfelbaum gezogen hatte. Von der Familie aber, der ich geholfen hatte, bekam ich einen ganzen Korb mit Obst.
So fuhr ich am letzten Tage mit dem „Postkütschchen“ hinunter zur Stadt. Es war nur ein kleines Paketwägelchen, aber vorne neben dem Kutscher hatte noch eine Person Platz. Bald überholten wir einen Wanderer. Der bat sehr, wir möchten ihn mitnehmen. Zur Not gingen auch Drei nebeneinander, wenn es „geduldige Schafe“ waren, wie es im Sprichwort heißt. Als im nächsten Dorf noch eine Frau aufsteigen wollte, wurde es schon schwieriger, aber der Schaffner kam dadurch nicht in Verlegenheit. Er bot der Frau seinen Platz an und setzte sich links unten auf das Fußbrett Er fand es ganz in Ordnung, dass nach kaum 10 Minuten langer Fahrt der Landbriefträger kam und sich entsprechend auf der rechten Seite hinkauerte. „Das arme Pferdchen!“ wird man vielleicht empört denken. Es war nur halb so schlimm, denn erstens fuhren wir beständig bergab, und zweitens war der Gepäckkasten, von meinem Rucksack und dem Obstkörbchen abgesehen, leer.

1. Mein neues Arbeitsfeld


Endlich war der große Tag gekommen. Ich hielt ihn in Händen, den verheißungsvollen gelben Amtsbrief. Da stand es schwarz auf weiß? „Es scheint sich ein Arbeitsfeld für Sie gefunden zu haben, wie Sie es wünschen. Der Betrieb ist rund 100 Morgen groß, und obwohl Frau Baumann sehr fleißig und energisch ist, bedarf sie doch einer kräftigen Unterstützung für den Außenbetrieb.“ Das war alles, was man von dem Orte wusste, der vielleicht auf unbestimmte lange Zeit mein Aufenthalt werden sollte. Näheres hatte man mir nicht geschrieben. Somit war meiner Phantasie der weiteste Spielraum gelassen. Man hatte mir von der Landwirtschaftskammer aus nur geraten, erst einmal nach B. zu einer Besprechung mit Frau Baumann zu fahren. Das tat ich denn auch.
Es war an einem herrlichen Novembertage. Viel zu langsam fuhr der Zug für meine Ungeduld. Und unwillkürlich dachte ich bei jedem Gehöft oder Dorfe, das mein Blick im Vorbeieilen streifte: Sieht es wohl so aus oder ist es etwa so? Allmählich sank mir der Mut, denn die Berge wichen mehr und mehr zurück, und das Land wurde zuletzt ganz flach. Mein Herz aber hängt an Wald und Bergen. Da sprach eine Stimme in meinem Innern: „Ei, du brauchst ja gar nicht hinzugehen, wenn es dir nicht gefällt. Du bist ja frei!“ Allein, ich wurde bald Herr meiner Enttäuschung, indem ich mir sagte: “Du gehst doch nicht hinaus, um eine angenehme Zeit in besonders schöner Gegend zu verleben, sondern um ernste Kriegsarbeit zu leisten, da, wo man dich braucht. Und nur das letzte ist maßgebend. Fragt ja auch keiner von unseren Kämpfern draußen: Ist die Gegend schön?“
Der Tag war fortgeschritten und leise bereitete sich der Abend vor. Die letzten Strahlen der scheidenden Sonne tauchten das Land in ein tiefes, sattes Violett, dagegen der Himmel golden abstach, wahrlich ein schöner Anblick, tröstend und versöhnend. Der alte Spruch zog mir durch den Sinn:

Nicht an allen Orten sprossen alle Freuden,
Nicht an allen Orten alle Blumen auf.
Glücklich, wenn du immer pflückest jede Freude,
Pflückest jede Blume, wie der Ort sie bot,
wie der Ort sie bot.

Ja, eine Schönheit bietet jeder Ort. Du darfst nur Dein Auge nicht davor verschließen.
Wie verabredet holte mich Frau Baumann an der Bahn ab. Unterwegs erklärte sie mir kurz ihre Verhältnisse. Während des Krieges leite ihr 72-jähriger Vater das Gehöft. Die an und für sich schon schwere Aufgabe werde durch den Mangel an ordentlichen Leuten noch bedeutend schwieriger, denn es sei für so einen alten Mann nichts Angenehmes, sich mit halbwüchsigen Trabanten oder zweifelhaften Landstreichern herumzuschlagen. Darum würde sie sich schon um ihres Vaters Willen freuen.
Eine Hauptsorge aber werde ihr dadurch abgenommen, wenn sie an ihre Kinder denke. Es wäre immer ihr Kummer gewesen, dass Hans, ihr 14jähriger Ältester, in Abwesenheit des Vaters nur immer auf den Umgang mit Knechten angewiesen sei. „Sehen Sie“, sagte sie, „auf diese Weise können Sie sich außer ihrer praktischen Arbeit noch in anderer Beziehung nützlich machen. Hier könnten Sie einer Mutter helfen, ihre drei Jungen zu braven Menschen zu erziehen. Und ich denke: Jugendpflege ist auch Vaterlandsdienst.“
Inzwischen waren wir an dem Gehöft angelangt. Es war bereits völlig Nacht geworden. Nur dass wir an einigen Häusern vorbeigekommen, hatte ich sehen können. Es musste also ein Dorf sein. Einzelheiten waren nicht zu erkennen. Horch, da fing in allernächster Nähe die Abendglocke an zu läuten. Und richtig, gerade dem Gehöft gegenüber ragte der schlanke Kirchturm dunkel empor. Im Übrigen erging es mir fast wie der „Katze im Sack“. Ich wusste nicht, wo und wie ich hingekommen war.
Frau Baumann setzte mir freundlich Kaffee, Brot und Butter vor. Während ich mich nach der langen Reise stärkte, unterhielten wir uns schon recht flott über allerhand. Gerade erzählte Frau Baumann, dass ihr derzeitiger Knecht in den nächsten Tagen auch fort müsse, dann habe sie nur noch einen polnischen Arbeiter. Da – bum, bum, bum, bum. Schwere Männerschritte polterten draußen auf dem Gang. Gleich darauf erschien eine vierschrötige Gestalt im Türrahmen. Die glasigen Augen in dem plumpen Gesicht waren rot und triefend. Der breite Mund unter der roten Schnapsnase verzog sich zu einem widerlichen Lächeln, während der Mann anfing in einem mir unverständlichen Kauderwelsch auf Frau Baumann einzureden.
„Steh mir bei!“ dachte ich, „das ist gewiss der Pole, mit dem du fortan arbeiten sollst.“ Und mit Entsetzen musterte ich immer wieder den alten, grauhaarigen Riesen, der den struppigen Kopf weit vorstreckte, um nicht oben anzustoßen. Man kann mir nachfühlen, dass sich meiner Brust ein Seufzer der Erleichterung entrang, als Frau Baumann nachher lachte: „Wie, Sie haben gemeint, das sei unser Pole! Nein, Fräulein, da können Sie wirklich beruhigt sein. Unser Broneck sieht doch entschieden anders aus.“
Natürlich war ich voller Erwartung, wie sich das Gehöft und die Umgebung wohl im Tageslicht ausnehmen werden. Indes konnte ich es mir nicht versagen, vor dem Schlafengehen wenigstens einen Blick in den Pferdestall zu tun, der unter Umständen bald mein Reich sein würde. So viel hatte ich unterwegs schon gehört, dass als Zugtiere eine Arbeitsstute und zwei starke Ochsen da seien. Aber auf solch einen Anblick war ich nicht gefasst! Bekanntlich sind die belgischen Gäule nicht klein und zierlich, aber neben diesen Riesenochsen…! Ich glaube, meine Augen wurden wie Mühlräder so groß, um alles, alles aufzunehmen. Im Traum sind sie mir erschienen: Fasolt und Fafnir (Riesen aus der Siegfried-Sage)!
Heller Hahnenschrei weckte mich am nächsten Morgen. Sogleich machte ich einen Rundgang durch alle Ställe, wo gerade gefüttert wurde. Ich war schon beinahe fest in meinem Entschluss, hier den Großknecht zu vertreten und sah deshalb alles mit besonderen Augen an. Zunächst zog es mich natürlich zu den „Meinen“ in den Pferdestall. Außer den schon erwähnten Tieren stand dort auch „Fanny“, ein altes Reitpferdchen, das auf dem Hofe sein Gnadenbrot bekam und öfter zu kleinen Gelegenheitsfahrten benutzt wurde. Auch ich habe „Fannys“ Gegenwart später oft angenehm empfunden.
Neben dem Pferdestall war der Kuhstall, wo in zwei Reihen etwa 18 Stück schönes ostfriesisches Vieh stand, auf der einen Seite die Milchkühe, auf der anderen das Jungvieh und der Bulle. In der Mitte war die sogenannte „Futterei“. Die Gebäude waren in der Weise angeordnet, dass sie ein geschlossenes Viereck bildeten. Das Wohnhaus mit der Einfahrt lag vorn an der Straße, links davon Kuh- und Pferdeställe. Die Schweineställe und ein Holzschuppen schlossen sich rechts an, die Scheune begrenzte den Hof nach hinten. Ein kleines Türchen führte an derselben vorbei in den Gemüsegarten, an welchen Wiesen und Baumstücke stießen. Es waren wohl zehn Schweine da und etwa 100 Stück Federvieh; Hühner, Enten und Gänse bevölkerten den Hof. Die drei Jungen zeigten und erklärten mir alles.
Dann machte ich mit dem alten Herrn Kerner, dem Vater von Frau Baumann, einen Gang durch die Flur. Was waren das für Felder: 10, 20, 30 Morgen und mehr an einem Stück. Auch die großen Getreidebarren machten mir Eindruck und die schweren Fuhrwerke. Meist waren es große zweirädrige Karren, wie man sie bei uns zum Kohlenfahren verwendet. Das Merkwürdigste aber waren mir die Balancepflüge. Schon von der Bahn aus hatte ich die Dinger im Feld stehen sehen, mir aber nichts Rechtes dabei denken können. Nun beobachtete ich sie ganz in der Nähe in Tätigkeit. Wir waren an die Parzelle gekommen, wo der Knecht mit den Ochsen pflügte. So hatte ich Gelegenheit, die gigantischen Tiere in ihrer ganzen Schönheit und Kraft zu bewundern. Ja, damit zu arbeiten, müsste eine Freude sein!
Herr Kerner hatte mich unterwegs in seiner freundlichen Weise auf dies und jenes aufmerksam gemacht und mir die nächstliegenden Ortschaften erklärt. Jetzt kam sie mir gar nicht mehr so schrecklich vor, die große Ebene. Fern im Osten stieg das Siebengebirge auf; von Süden her grüßten die Ausläufer der Eifel in grau-blauem Duft. An malerische Wirkungen dachte ich freilich in dem Augenblick nicht; auch war ganz erfüllt von landwirtschaftlichen Dingen. Und als wir uns nach beendetem Gange trennten, und Georg und Wilhelm mich mit der „Fanny“ zur Bahn fuhren, kam das „Auf Wiedersehen!“ wirklich aus freudigem Herzen. Soviel war mir gewiss: Ich würde dort viel Neues und Anregendes sehen und erleben.


Am 4. November trat ich in B. an. Am ersten Abend hörte ich die Tageseinteilung. Um 4 ½ „antreten“ im Pferdestall, tränken, füttern, putzen, Stall reinigen. Nach dem Morgenkaffee um 5 ½ Uhr anspannen, im Winter etwas später, je nach der Dunkelheit. Feldarbeit bis vor 11 Uhr. Abspannen, füttern, dann Mittagessen und Pause. Von 1 bis 7 oder 7 ½ Uhr wieder Feldarbeit, Füttern, Nachtessen, Feierabend. Es gefiel mir von vornherein, dass man hier streng nach der Uhr arbeitete. In einem größeren Betrieb ging es auch gar nicht anders.
Ich war gerade zur rechten Zeit nach B. gekommen. Der Knecht blieb ausgerechnet noch diesen einen Tag da. So konnte er mir die zu übernehmende Arbeit anweisen, mir das Futtermaß für jedes Tier zeigen und wo die verschiedenen Futtersorten zu finden seien. Wohl hatte ich während meiner früheren Tätigkeit in dem Nachbardorf auch mal hie und da, wenn Frau Dietrich auf den Markt gefahren war, den Stall gesäubert. Aber der war sehr klein gewesen, er beherbergte nur ein Rind und zwei Kühe, welche letztere aber an den betreffenden Tagen meist nicht drin waren. Mich also nicht hinderten. Und es hatte nichts geschadet, wenn ich mich an der ungewohnten Arbeit ein wenig lange aufhielt; ich hatte ja Zeit. Aber hier in B. musste alles trab, trab gehen.
O, wie hantierte ich anfangs so ungeschickt mit der langen Stallgabel, und in den ersten Tagen kam mir der gefällige Pole manchmal zu Hilfe, wenn mir der Schubkarren auf dem Wege zur Düngerstätte umschlagen wollte. Das Laden will nämlich, so töricht das auch klingt, gelernt sein. Einer der’s nicht versteht, macht sich die dreifache Mühe. Da alle Tiere im Stall standen, konnte man sich auch nicht so frei bewegen. Die schwerfälligen Ochsen musste ich immer anrufen, ob es ihnen gefällig sei, ein wenig auf die Seite zu treten, wenn ich gerade unter ihrem Stand die Streu erneuern wollte.
Bei dem Pferdeputzen, das nun folgte, habe ich anfangs auch manches Tröpfchen Schweiß vergossen. Es war noch vor dem Krieg, dass ich zu Hause den Reitknecht, nachdem er mir auf meinen Wunsch das Satteln und Aufzäumen gezeigt hatte, bat: „So, nun lehren Sie mich bitte auch noch, wie man ein Pferd putzt.“ Der hatte mich verwundert angeschaut: „Aber gnädiges Fräulein“ „Wer weiß, ob ich es nicht vielleicht noch einmal brauchen kann im Leben!“ hatte ich lachend geantwortet. Freilich, das ahnte ich damals doch nicht, dass ich noch einmal fast ein Jahr lang täglich morgens zwei, später sogar drei Pferde würde putzen müssen, zu schweigen von den zwei großen Ochsen, die oft recht schmutzig waren. Dem strengen Auge eines Ulanenoffiziers hätten meine Pferde wohl nicht standgehalten; aber man durfte schon mal mit dem Finger gegen den Strich fahren, ohne einen grauen Streifen auf dem Fell zu hinterlassen. Sehr angenehm war das elektrische Licht im Stall.
Das Dorf lag noch still und dunkel da, als wir den Hof verließen. Der kühle Morgen dünkte mich zauberhaft schön. Wie selten erleben doch wir armen Stadtleute etwas davon! Der Morgenstern strahlte noch in vollem Glanz. Von der Stadt her sah man die großen Fenster irgendeiner Fabrik aufleuchten. Wie eine gleißende Schlange glitt in der Ferne ein Zug dahin. Aus dem Dunkel lösten sich die Gestalten der ausziehenden mit ihren Gespannen wie schwarze Schattenbilder, die umso reizvoller wirkten, als der Hintergrund ein stets wechselndes Farbenspiel von unbeschreiblicher Pracht entfaltete. Vom tiefsten Enzianblau ging es allmählich in lichtes Hellgrün über, um sich dann zu steigern vom reinen Gelb zum Orange, ja bis zum höchsten Karminrot. Der ganze Osten glühte, die Sonne war nicht mehr fern.
Inzwischen waren wir an dem Felde angekommen, wo die Sämaschine stand. Wir spannten die Ochsen an, und der Knecht lehrte mich, die Maschine zu führen. Da das Land vor dem Winter ziemlich rau war, machte es mir einige Schwierigkeit, immer die Radspur klar zu verfolgen. Da hieß es denn aufpassen und das Hintersteuer gut festhalten. Das stieß hin und her; ich musste den Arm ordentlich straff machen. Obendrein galt es, darauf zu achten, dass die Körner richtig liefen und dass sich keine Pfeifen verstopften. Später tat ich das alles unwillkürlich von selber, aber im Anfang bedurfte es der restlosen Aufmerksamkeit.
Um 8 ½ Uhr hielten wir eine kurze Frühstückspause. Ein paar Leute kamen aus dem angrenzenden Feld zu uns herüber. Sie wollten offenbar die Ersten aus dem Ort sein, die die neue „Elevin“ gesehen hatten. Denn unter diesem Namen war ich, wie ich später hörte, Dorfgespräch, lange ehe ich selber da war. Die meisten zwar hatten ablehnend gemeint: „Das soll nur so etwas sein: die bleibt doch nicht lang!“ Aber gesehen haben wollte man sie doch einmal.
Bis zum Mittag wurden wir auf diesem Felde fertig. Der Knecht verabschiedete sich, da er in der Frühe des nächsten Morgen abreisen musste. Nachmittags eggte ich das Stück zu. Ich kam ganz gut zu Recht mit den Ochsen. Denn wie man mit dem „lieben Vieh“ redet und umgeht, hatte ich ja bereits früher gelernt. Die Ochsen durfte man allerdings entschieden kräftiger treiben als damals die Kühe. Sie konnten mit ihren hohen Beinen lange Schritte machen und brachten immer ein ordentliches Stück hinter sich. Im Allgemeinen nahmen sie sich aber gerne Zeit, und wenn man nicht ständig mit der Peitsche hinter ihnen war, übereilten sie sich nicht leicht. Darum war ich tatsächlich ehrlich überrascht, als sie mir eine Tages durchgingen, regelrecht durchgingen.
Allerdings war es an einem Montagmorgen, infolge der Sonntagsruhe hatten die Tiere offenbar Stallmut. Als ich sie aus dem Stall holte, hatte ich ihnen gar nichts angemerkt. Wie sonst hatten sie sich anschirren lassen und trollten voller Seelenruhe den gewohnten Weg zum Felde; ich ging hinter ihnen her. Plötzlich setzte sich der eine in Trab. Da sie zusammen gekettet waren, musste der andere mit. Ich rief ihnen ein drohendes „Hüoh“ zu, aber sie hörten nicht. Da wollte ich versuchen, ihnen beizukommen und sie anzuhalten. Allein, sowie sie es merkten, setzten sie sich alsbald in Galopp und entwickelten eine Geschwindigkeit, die ich ihnen niemals zugetraut hatte. Mit dem Dauerlauf begnügten sie sich aber nicht, sie hatten das Bedürfnis, ihre Kraft noch auf andere Weise zu bestätigen. Ein Acker, zum Glück war es ein Stoppelfeld, wurde zum Schauplatz ihrer „ritterlichen Spiele“ ersehen. Bums, bums rannten die dicken Schädel aneinander Die Ketten klirrten, und bald flogen rechts und links die Joche. Es war unmöglich, der Tiere habhaft zu werden. Endlich gelang es mir, sie dem Bahnübergang zuzutreiben, wo der Bahnwärter rasch die Schranke herunter ließ. So wurden sie überlistet. Bei der Arbeit gab ich ihnen nun Gelegenheit, ihren Tatendrang auf nützlichere Weise zu befriedigen. Soviel von den Ochsen.
Am Morgen hatte Broneck, der Pole, mit der Stute vor der Maschine geeggt. Ich musste lachen, wenn ich ihn mit dem alten, tollpatschigen Trunkenbold verglich. Frau Baumann hatte recht: er sah entschieden anders aus. Er mochte wohl Mitte 30 sein, groß und schlank. Gefälliger noch als seine geschmeidige Gestalt waren seine Bewegungen bei der Arbeit, die zu beobachten sich mir später oft Gelegenheit bot. Er hatte überhaupt etwas Flottes in seinem Äußern. Das zeigte schon die Art, wie er die Jacke um die Schultern hing und wie ihm die Mütze auf dem Kopfe saß. Was mich aber besonders angenehm berührte, war Bronecks Art, mit den Zugtieren umzugehen. Von jeher war ich leicht geneigt, aus dem Verhalten eines mir noch fremden Menschen den Tieren gegenüber Schlüsse auf sein ganzes übriges Wesen zu ziehen; meine Beobachtungen haben mich selten getäuscht. Und so wusste ich am ersten Morgen, obwohl wir noch kaum ein paar Worte zusammen gesprochen hatten, mit diesem meinen nunmehrigen Mitarbeiter würde ich gut auskommen.


Die Rübenernte mussten wir mit Volldampf betreiben. Broneck hob die Rüben heraus, zwei Frauen trennten hernach die Blätter mit einem Stoßmesser ab. Es ist erstaunenswert, was solche Polenleute im Akkord leisten können. Ich habe es auch einmal versucht, brachte aber nicht viel fertig. Es gehört ein besonderes Geschick dazu. Nun, ich brauche es ja nicht zu tun. Es gab andere Arbeit, mehr als genug.
Sowie ein größeres Stück leer war, wurde es umgepflügt und eingesät. Da war es denn für mich recht anziehend, den schweren Boden der dortigen Gegend mit dem bedeutend leichteren meiner Heimat zu vergleichen. Wenn wir bei Frau Dietrich die Felder zum Winter bestellten, dann wurde das Land nur einfach mit einem gewöhnlichen Pflug gestürzt, in die frischen Furchen gesät und zugeeggt. Fertig! Aber so schnell ging die Sache doch nicht in B. Gewöhnlich wurde das leere Feld zweimal in diagonaler Richtung mit dem Grubber aufgerissen und dann gepflügt, dazwischen wieder geeggt und gewalzt, bis es endlich glatt war. Die Maschinensaat erfordert eine gründliche Vorbereitung.
Frau Baumanns Bruder stellte uns später freundlicherweise einen Knecht und ein Pferd für 14 Tage zur Verfügung, so dass wir immer zu gleicher Zeit mit zwei Doppelgespannen arbeiten konnten. Das kam uns auch beim Wegfahren der Rüben sehr zustatten. Während wir die Zuckerrüben sofort in die Fabrik brachten, wurden die Futterrüben in zwei großen Mieten nahe dem Hause eingelegt.
Zur Beförderung benutzten wir die schon erwähnten großen Lastkarren. Anfangs konnte ich gar nicht recht zu Streiche kommen. Ich erinnere mich noch deutlich des Schreckens, als so ein Ding mir aufschlug, und die ganzen Knollen oder „Knorren“, wie man sagt, herauskollerten. Wenn man sie aber kennt, dann haben die Schlagkarren ihre großen Vorteile, und mit den zwei Rädern lassen sie sich auf der Stelle drehen. Dieser Umstand hat mir einmal geradezu das Leben gerettet: Mein Weg kreuzte die Bahngleise, die Schranken waren offen. Der Gaul hatte schon fast die Schienen berührt, als der Bahnwärter mir plötzlich entgegenstürzte. „Zurück, zurück!“ schrie er, mit beiden Armen winkend. Ich stand auf der Karre und hielt, entgegen der meisten Knechte, die Leine in der Hand. Zum Glück! So konnte ich das Pferd sofort herumwerfen und auf der Stelle kehrtmachen. Eine Sekunde später brauste der Schnellzug kaum einen Meter hinter mir vorbei. Es war der Sonderzug, der vergessen hatte, abzumelden, und weil der erwähnte Bahnübergang an einer von einem Birkenwäldchen verdeckten Kurve lag, hatte man ihn nicht früher sehen können. Bei dem Gerassel der Karre hatte ich seine Annäherung auch nicht gehört. Mit einem vierrädrigen Wagen wäre mir solche kurze Wendung zweifellos nicht gelungen. Ich mag nicht ausdenken, was dann geschehen wäre.
Die große Drescherei nahm bald ihren Anfang. Zwar waren Baumanns unter den Letzten, in deren Hof die Maschine kam, aber sie hatten einen Teil ihrer Frucht in der „Burg“ aufbewahrt. Die sollte zu gleicher Zeit mit dem übrigen, dort lagernden Getreide gedroschen werden. Baumanns mussten während der Arbeit nur eine Person zur Aufsicht an die Säcke stellen. Herr Kerner wollte anfangs nicht zulassen, dass ich diesen Posten übernehme. Es gibt schließlich auch Angenehmeres, als nahezu drei Wochen von morgens bis abends in dem Staub und Lärm zu stehen. Und dann war es immerhin schon Dezember. Die letzten Tage stand die Maschine sogar draußen im freien Feld an einem der großen Getreidebarren. Hui, da pfiff der Wind, dass es einem durch Mark und Bein ging, aber auch schon im Hof der „Burg“ zog es „nach Noten“. Ich hatte mich darum mit einer guten Wollkappe und Fausthandschuhen ausgerüstet, und Frau Baumann hatte mir für die Zeit einen Mantel von ihrem Manne gegeben.
Um 6 ½ gab die schrille Dampfpfeife mit lang gezogenem Ton das endgültige Zeichen zum Beginn, nachdem ein kürzerer Pfiff schon fünf Minuten vorher die Tagelöhner aus dem Dorf zusammengerufen hatte. Ich hatte meine Stallarbeit bereits hinter mir; aber auch die beiden Maschinisten hatten sich ihren Morgenkaffee verdient. Seit zwei Stunden war die Lokomobile angeheizt. Der Treibriemen, der jeden Abend abgenommen wurde, lag prall um das Schwungrad; alle Lager waren frisch geölt. Jetzt öffnete der Heizer ein Ventil. Zischend entströmten ein paar Dampfstöße, dann kam Leben in die Maschine. Schneller, immer schneller drehte sich das große Schwungrad, und der Dreschkasten setzte sich in Bewegung, erst in allen Gelenken knackend und ächzend. Aber bald lief alles seinen gewohnten Gang, und nun hörte ich mit regelmäßigen, kurzen Unterbrechungen das Einlassen der Garben. Es war ein besonderes Geräusch, ich konnte es genau unterscheiden in dem anhaltenden, gleichförmigen Lärm. In kurzem war alles in einen dichten Staub gehüllt. Zwei schwache Stalllaternen bemühten sich vergeblich, ein wenig Klarheit zu schaffen. Nur in ihrem allerengsten Lichtkreis waren menschliche Gestalten schattenhaft zu erkennen, um alsbald wieder in der völligen Dunkelheit unterzutauchen.
Mir fiel die Aufgabe zu, die leeren Säcke anzuhängen und die gefüllten aufzuheben. Mit Hilfe einer kleinen Sackkarre ging das ganz leicht. Auf der Dezimalwaage prüfte ich das Gewicht nach. Einen offenen Sack hatte ich neben mir stehen, um die etwa fehlenden oder überschüssigen Pfunde auszugleichen. Es machte mir aber stets besonderen Spaß, wenn sich mein Augenmaß als richtig erwiesen hatte. Da die Säcke verschiedene Formen und Größen hatten, bedurfte es zum Abschätzen schon einiger Übung.
Die Beschäftigung nahm aber keineswegs meine Zeit ganz in Anspruch, und man konnte sich dabei nicht warm schaffen. Darum stattete ich gerne, wenn ich gerade einen neuen Sack eingehängt hatte, dem Heizer einen Besuch ab. In dem Winkel hinter dem Dampfkessel war es verhältnismäßig behaglich. Wenn ich zu ihm kam, öffnete der Mann wohl mal die Feuerung und entnahm derselben eine große Schaufel glühender Kohlen. Gewöhnlich begnügte ich mich aber damit, der „warmherzigen“ Lokomobile den runden Leib zu streicheln und zu klopfen. Während meine erstarrten Glieder langsam auftauten, ließ ich mir von dem Heizer das Wesentliche seiner Maschine erklären.
Die Drescherei im eigenen Hofe war in wenigen Tagen überstanden.


Nachdem vier Pferde die Dreschmaschine nach beendeter Arbeit auch aus dem Baumannschen Tor heraus gezogen hatten, begann für uns die eigentliche Winterarbeit. Broneck fand seine Beschäftigung in Hof und Garten, er grub mit dem Spaten und sägte Holz. Ich ging jeden Tag mit den Ochsen „bauen“, wie sie dort das Pflügen nennen. Broneck ging nur mit mir, wenn ein neues Feld angefangen wurde, denn mit einem Balancepflug hatte ich früher ja noch nie gearbeitet, und so ein Ding will gekannt sein.
Beim „Setzen“ kommt es auf die größte Genauigkeit an. Wie die einzelnen Teile stehen müssen, das richtet sich von Fall zu Fall. Das lernt man mit der Zeit von selber. Doch ehe alles tadellos klappt, hat man manchmal recht lange zu „brasseln“. Dann geht es allerdings auch fein, und man kann nebenher spazieren, beide Hände in den Manteltaschen. Nur das Wenden am Ende der Furche will besorgt sein.
Am besten lässt sich der Pflug herumwerfen, sobald die Tiere in der Hälfte der Kehrtwendung stehen. Drehen sich nun die Ochsen nicht kurz genug, so reißen sie einem leicht den ganzen Pflug um. So ein Balancepflug ist aber mörderisch schwer. Wenn ich mich dann mit allen Kräften stemmen musste, um das Ding wieder aufzurichten, haben mich immer die Ochsen geärgert. Die standen teilnahmslos daneben und glotzten aus ihren großen, kugelrunden Augen und begannen allmählich wiederzukäuen. Aber ich habe trotzdem an mich gehalten. Denn ich habe lang genug mit Tieren gearbeitet und arbeiten sehen, um zu wissen, dass bei einem Zwischenfall meistens den Fuhrmann die Schuld trifft. Und angenommen, die Tiere hätten den Fehler gemacht, ist noch nicht gesagt, dass es Bosheit von ihnen war. Wenn man aber in solchem Fall die Ochsen hart anfährt und prügelt, dann kommen sie ganz „durcheinander“, gehen weder vor noch zurück, treten über die Ketten und verhängen sich, so dass man sie zum guten Schluss ganz losmachen und neu anspannen muss.
Es ist auch dabei wahr: „Nur die Ruhe kann es bringen.“ Aber, um immer ruhig zu bleiben, dazu gehört etwas bei einem jungen Menschen, das kann ich jedem versichern. Und antreiben lässt sich das Vieh; der Mund friert einem wenigstens nicht zu: „Jau, Hoio, Holloh, Huss, Hoppelah!“ Aber sonst sind die Ochsen gerade am Tiefpflug vorzügliche Arbeiter. Ich glaube es gern, dass zwei gute Ochsen so viel leisten wie drei Pferde.
Wo es zu schwer wurde, spannte ich noch „Lotte“, die kastanienbraune Stute dazu. Das ging sehr gut. Gegen Ende der Furche stellte ich mich immer auf den Pflugbau, damit das Schar tiefer in den Boden ging. Die Knechte taten das auch alle. Für jemanden, der das noch nicht kennt, sieht es sich zuerst komisch an.
Am besten pflügte es sich bei leichtem Frost. Unangenehm wurde es nur, wenn der auftaute und es nass wurde. Allein zu Anfang des Winters darf man auch ruhig im Nassen arbeiten. Die ziegelartig zusammen gebackenen Furchen werden durch den zersprengenden Frost bis zum Frühjahr doch wieder locker. „Das Land ist ausgewintert“, sagt man. Drum ging ich auch bei jedem Wetter ins Feld.
Meine braune Wollkappe hat mir dabei gute Dienste geleistet. Die konnte ich so weit über den Kopf ziehen, dass nur noch die Augen herausguckten. Und ich war froh, dass ich unter dem langen Lodenmantel ordentliche, hohe Schaftenstiefel trug: echte, vorschriftsmäßige Kommissstiefel. Darum konnte mich später auch das Bekenntnis unserer Stanislawa nicht allzu sehr verwundern: „Bin schon 14 Tage bei Frau Baumann gewesen, habe nicht gewusst, ist Fräulein Mann oder Mädchen. Hat immer draußen geschafft wie Mann, hat hohe Stibbel an und lange Mantel wie russisch Soldat. Habe einmal gefragt: Broneck, wer sind das? Sind das Mann oder Mädchen? Aber da Broneck mir so lachen und sagen: Du dumm klein Stanislawa, das sind feine Fräulein, sonst nicht schaffen, nur jetzt zum Krieg.“
Oft war es gar beschwerlich. Schnee und Lehm hingen sich in solchen Klumpen an die Stiefel, dass man die Füße fast nicht aufheben konnte, und der Pflug warf sich an der Kette noch einmal so schwer herum durch den daran haftenden Grund. Die Räder drehten sich schlecht, weil die Achsen nicht rein waren. Alles, was man anfasste, war ein Schmutz. Ich sah oft aus, dass man die Hände über dem Kopf hätte zusammenschlagen mögen.
Und dabei war es so kalt. Wenn ich mein 9-Uhr-Brot aß, dann bin ich oft zwischen die Ochsen gekrochen, um Schutz zu suchen vor dem durchdringenden Wind, und meine eisigen Hände habe ich der braven „Lotte“ unter das Kummet gesteckt. Da war es doch noch ein bisschen warm. Im Übrigen hat es mein Wohlbefinden nicht im Geringsten beeinträchtigt; es machte mir wenig aus. Ich glaube, nicht alle Arbeiter in der Flur waren so guter Dinge wie ich. Und ein gewisser schönheitlicher Reiz ließ sich selbst bei dieser winterlichen Öde abgewinnen.
Es stimmte alles so fein zusammen, das weite, weiße Land mit dem gelblich fahlen Himmel darüber und den Scharen von Raben. Da hinein passten auch die russischen Gefangenen, die schweren Schrittes durch den Schnee stapften. Ich musste immer an die Bilder denken, die mit dem Napoleonischen Winterfeldzug zusammenhängen.
Wenn sich dann der Abend auf die kahle Erde nieder senkte, tauchte wohl vor mir ein trauliches Zimmer daheim auf, mit dem alten, lieben Möbeln, den Bildern und Büchern und dem hölzernen Schiffsmodell. Die Lampe unter dem farbigen Schirm verbreitete ein angenehmes mildes Licht, und im Kachelofen knisterten behaglich die Buchenscheite. Und dann überkam es mich wie ein Verwundern, dass ich jetzt hier so ganz allein draußen war, und die Arbeit eines Knechtes tat bei wildfremden Menschen, die mich gar nichts angingen. Weit und breit kein anderer Mensch als ein paar Kriegsgefangene. Die dachten vielleicht auch gerade an ihre ferne Heimat. Unter diesen Russen war manch einer, der, gleich mir, nie zuvor Landarbeit verrichtet hatte. Aber das eben war der große Unterschied zwischen ihrer Arbeit und der meinen: sie taten es als Gefangene in Feindesland, und ich tat es mit freudigem Herzen für meine Heimat.
Als die ganze grimmige Kälte des dritten Kriegswinters einsetzte, da war es mit dem Pflügen vorbei. Eine hohe Schneedecke lag wochenlang auf den Feldern. Das einzige, was man tun konnte, war Dung ausfahren. Broneck blieb im Hof und lud die großen Karren. Hans, der älteste der Baumannschen Jungen, fuhr sie mir ins Feld und nahm die leeren mit zurück, Ich zog sie mit dem langen Haken ab. So hatten wir jeden Tag eine gute Anzahl Karren auf das Land gebracht. Dabei ist es mir einmal vorgekommen, dass mir die Stiefel buchstäblich an den Füßen festgefroren sind. Das war bei 23 Grad Kälte.
Uns Westdeutschen bot sich wirklich Gelegenheit, einen regelrechten Winter mit allem Zubehör durchzukosten. Wenn ich alltäglich morgens um 4 ½ Uhr in den Pferdestall ging, so war ich schon froh, wenn ich mit meinen Holzschuhen in der Dunkelheit nicht hinschlug, denn der ganze Hof war voll Glatteis. Um die festgefrorene Tür aufzureißen, musste man schon Gewalt anwenden. Infolge der anhaltenden Kälte war die elektrische Leitung im Stall dauernd gestört, und ich musste mit einer Petroleumfunzel herumhantieren. Es war nicht gerade behaglich; wenn ich so in „Nacht und Eis“ meine Schiebkarre zur Düngerstätte fuhr. Dann überkam mich manchmal fast eine Stimmung wie die des verlorenen Sohnes aus der Bibel: „Die Dienstmädchen in meines Vaters Hause liegen jetzt noch in gutem Schlummer, und ich…“; aber ich hatte keine Zeit solchen Gefühlen nachzuhängen.
Sonst hatte ich die Tiere vor dem Füttern erst getränkt, aber die Wasserleitung…, ach du liebste Zeit, wie lange war die schon eingefroren…
Im ganzen Dorf waren auch nur noch zwei offene Pumpen. Da gab es eine Schlepperei! Das Trinkwasser für das Vieh, und was Frau Baumann zum Waschen und Putzen brauchte, holten wir aus dem Bach, in dessen meterdicke Eisdecke man ein Loch gebrochen hatte. Jeder Tropfen Flüssigkeit, der nur ein paar Minuten stand, war sofort Eis. Selbst die Milch, die sich in einem Raume neben der Küche befand, hatte eine Kruste. Leinentücher, die Frau Baumann gewaschen hatte, tauten erst nach drei Wochen wieder auf. Das Taschentuch fror einem an der Nase fest. An Feldarbeit war gar nicht zu denken. Broneck hackte das Eis im Hof auf, und ich half Frau Baumann im Haus so viel ich konnte. Meine Kenntnisse im Buttermachen verdanke ich jenen Wintertagen.
Nun hatte ich auch besser Zeit, mich mit den Kindern zu beschäftigen. Ich lernte mit ihnen und sah ihnen die Aufgaben nach. Abends spielten wir dann gewöhnlich ein Tier- oder Pflanzenquartett. Sehr oft versagte bei der großen Kälte aber auch das elektrische Licht im Haus. Kerzen gab es nicht, und die paar Tropfen Petroleum, die wir noch hatten, mussten für die Stalllaternen gespart werden. Ich erinnere mich noch gut des einen Abends, als sich sämtliche Hausbewohner um das kleine Illuminationslichtchen von unserem alten Puppentheater daheim, das ich den Kindern zum Spielen mitgebracht hatte, versammelten. Während des Nachtessens wurde dieses Lichtchen auf einem Stuhl in die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche gestellt, damit sowohl wir in der Stube als auch Broneck und Stanislawa wenigstens den Mund finden konnten.


Etwas Abwechslung in das eintönige Leben brachten die Fahrten zu Brikettwerken. Es war in der Gegend üblich, dass die Bauern ihren Wintervorrat an Briketts, an „Klüttchen“, wie sie dort hießen, selber holten. Sie kamen auf diese Weise wohlfeiler zu ihrem Brand. Die Gespanne hatten im Winter ohnehin nicht soviel zu tun. Ich habe, als ich es am Schluss zusammenzählte, die „Reise“ nicht weniger als fünfmal gemacht. Denn wir holten nicht nur für Baumanns die Klüttchen, sondern auch für andere Leute, die kein Fuhrwerk hatten, beispielsweise für den Dorfbäcker.
Ich nannte die Fahrt „Reise“. Das war es tatsächlich. Denn man konnte immerhin fünf Stunden für die Hinfahrt mit den Ochsen rechnen und ebenso lange für den Heimweg. Dazu kam ein mehrstündiger Aufenthalt auf der Zeche; einmal länger, einmal kürzer, je nachdem wie stark der Betrieb war. Was da oft für ein Andrang herrschte, das kann sich keiner vorstellen, der es nicht selber miterlebt hat. Stundenweit kamen die Wagen zusammengeströmt, von allen Himmelsrichtungen. Und je näher es auf das Werk zuging, umso lebhafter wurde der Verkehr, weil sich hier schon die verschiedenen Wege kreuzten. Kurz vor dem Ziel aber begann das reinste Wettrennen. Jeder wollte den anderen überholen; es war ganz toll. Als man dann hörte, dass Kohlenkarten aufkämen, da ging das Fahren sogar die ganze Nacht hindurch. Ich habe den Höhepunkt miterlebt.
Wir wollten nämlich am allerletzten freien Tag noch eine Fuhre holen. Wer da nicht stundenlang vorher da war, brauchte sich keine Hoffnung mehr zu machen. Ich brach denn auch schon um 11 Uhr abends auf. Frau Baumanns Onkel, dem wir schon einmal Briketts geholt hatten, bot mir zum Dank seine Begleitung an, die ich um so mehr schätzte, als man nach einem langen Arbeitstag doch gern ein bisschen Nachtruhe hat. Wenn ein Mann die Tiere lenkte, konnte ich mich getrost zeitweilig auf ein Heubündel im Wagen legen und die Augen schließen.
Die Frühlingsnacht war mild und angenehm. Erst gegen Morgen wurde es empfindlich kühl. Schon um 3½ Uhr kamen wir an, denn wir hatten die Ochsen gar nicht stehen lassen. Wohl hatten uns unterwegs schon ein paar Fahrzeuge überholt: aber das hatten wir doch nicht erwartet. 71 Fuhrleute, sage und schreibe, warteten bereits vor dem Fabriktore, und es war noch nicht 4 Uhr! Wir überlegten, ob wir nicht vielleicht besser zu dem nächsten Werke führen. Die Frage war nur, ob da auch ein Verkauf stattfände, und daher wäre es gewagt gewesen, einfach hinzufahren. Womöglich wäre man unverrichteter Sache umgekehrt, und an dem ersten Werk hätten statt der 71 Wagen 100 gestanden! So einigten wir uns, dass Herr Baumann allein hinging, um sich zu erkundigen, während ich zurückblieb und den Platz hielt.
Die wartenden Männer standen in Trupps zusammen und unterhielten sich. An meinem Wagen hatte sich auch eine Gruppe versammelt. Beim Schein der Laterne gab jeder ein Abenteuer oder ein Erlebnis zum Besten. Es war überaus stimmungsvoll und gemütlich.
Als Herr Baumann mit dem guten Bescheid zurückkam, drüben sei noch kein Mensch, aber ein Arbeiter habe ihm versichert, es werde heute verkauft, da schlossen sich eine ganze Reihe von Fuhrleuten uns an. Sie waren aber alle so anständig, dass sie uns vorließen. Der Verkauf wurde zwar auch hier erst um 7 ½ Uhr eröffnet, und wir luden recht lange an unserm Wagen, da die Presse nicht flott lieferte, aber wir waren doch mittags bei guter Zeit wieder in B.
Meine erste Kohlenfahrt habe ich damals in einem Brief an meine Eltern geschildert. Da sie ihn mir aufgehoben haben, will ich ihn hier folgen lassen.

den 28. Februar 1917 Gestern bin ich mit dem Ochsenfuhrwerk auf der Brikettfabrik gewesen. Weil ich um 6 Uhr abfahren wollte, musste ich bereits um 3 Uhr füttern. Auf der Grube waren gewiss an die achtzig Gefährte. Leider war kein Vorrat mehr da. Es konnten deshalb nur so viele Briketts geladen werden, als immer aus der Presse kamen. Die waren noch ganz heiß. Ihr könnt Euch denken, dass das lange dauerte, zumal sich drei Wagen festfuhren und den Verkehr störten. Sie mussten mit Winden gehoben werden.
Es war 9 Uhr abends, als ich endlich nach Hause kam. Hans sollte mir mit Vorspann entgegenkommen, war aber in der Dunkelheit zu bange und kehrte um, ehe wir uns getroffen hatten. Trotz alledem habe ich lange keinen so vergnügten Tag erlebt und so herzlich gelacht bei aller „Misere“. Da ich gerade etwas Zeit habe (Frau Baumann ist in die Stadt gefahren, und ich hüte das Haus), will ich ein bisschen ausführlicher berichten.
Also ich brach um 5 Uhr auf. Kurz nachdem ich das Dorf verlassen hatte, blies mir ein Windstoß die Laterne aus und ich musste bis zum nächsten Ort im Dunkeln fahren. Hier klopfte ich an ein Fenster und bat um Feuerzeug. Die öffnende Frau hielt mich für einen von den Burgknechten; ich sollte mich beeilen, meine Kameraden wären schon ein Stück voraus. Ich sah aber, auch als es hell war, nichts von denen. Ohne Zwischenfälle kam ich an der Grube an, wo mir ein Mann sehr verheißungsvoll zurief: „Na; Fräulein, da ist heute ein Betrieb. Sie müssen nicht glauben, dass Sie vor 10 Uhr abends wieder zu Hause sind!“ Nach mir kamen noch sechs Wagen, die es vorzogen, ledig wieder umzukehren. Einige von den Fuhrleuten, die auf der Grube hielten, kannte ich schon. Einer war sehr freundlich gegen mich und sagte, ich brauche doch nicht immer dahinten bei meinen Ochsen stehen zu bleiben. Ich solle einmal weiter nach vorne kommen, da gäbe es mehr zu sehen. „Und ihre Ochsen laufen Ihnen doch nicht fort!“
Ihr könnt Euch meinen Schrecken denken, als sie doch nachher verschwunden waren! Endlich fand ich sie hinter einem abseits gelegenen Schuppen stehend, abgesträngt. Es war klar, das hatten die Tiere nicht von selber getan. Da wollte mir irgendeiner einen Schabernack spielen, und ich hatte sehr stark den jungen Menschen im Verdacht, der gleich nach mir gekommen war und sich mit seinem Fuhrwerk hinter dem meinen hatte aufstellen müssen. Der hoffte nun, dass er auf diese Weise vor mir dran käme. Aber er frohlockte zu früh. Mit Hilfe des eben erwähnten Fuhrmanns (er hieß Friedrich Christmann) brachte ich meinen Wagen durch das Gedränge hindurch an seinen alten Platz. Wir schlossen so eine Art Schutz- und Trutzbündnis. Das heißt, wir wollten einander helfen und uns gegenseitig Vorspann leisten beim Abfahren von der Presse.
Er war viel früher fertig als ich, darum riet ich ihm, als ich meinen Ochsen von seiner Deichsel losmachte, er solle doch nur allein fahren: ich könne ja auch schließlich einen anderen um Vorspann bitten. Aber davon wollte er nichts wissen: „Nein, ich lasse keine Dame im Stich und, wissen Sie, dann habe ich auch die Ehre, dass ich mit Ihnen zusammen nach Hause fahre, Herrjeh, was werden die anderen eifersüchtig sein, wenn sie das hören, dass ich mit der Elevin zusammen gefahren bin. Sie haben nämlich allen jungen Männern in der Umgegend die Köpfe verdreht. Wenn wir zusammen kommen, heißt es doch immer: Was gibt es Neues von der Elevin? Ich lasse mir das nicht nehmen, ich fahre mit Ihnen, dann können sich die anderen die Haare ausraufen.“
Wir hatten aber noch ein Kabinettchen zusammen. Als ein paar Pferdekutscher uns überholen wollten, sagte mein Begleiter, ich solle auf die Seite fahren. Wir wussten beide nicht, dass auf der rechten Seite erst kürzlich eine neue Wasserleitung gelegt und der Weg daher noch nicht fest war. Da, o Schrecken, sank der Wagen mit den zwei äußeren Rädern buchstäblich bis an die Achsen ein. Christmanns bedeutend leichterer Wagen kam weiter. Wir flehten einen Pferdekutscher um Hilfe an, nachdem die vier Ochsen mit vereinten Kräften den Wagen nicht herauszuziehen vermocht hatten. Sechsspännig müsste es doch gehen. Zunächst fehlten noch die passenden Geschirre. Der gute Friedrich lief in das nächste Dorf, zum Glück war das nicht weit, und holte welche. Währenddessen hieben wir die Räder frei.
Dann wurden die Pferde vor die Ochsen gespannt. Aber die Räder wichen keinen Zoll, eher wäre der Wagen zerbrochen. Nun blieb nichts anderes übrig als abzuladen. Nachdem ich dem Pferdekutscher ein kleines Trinkgeld gegeben hatte, entfernte er sich unter guten Wünschen. Ich sagte meinem Begleiter, er könne doch gewiss nicht warten, bis ich fertig wäre mit Abladen. Herausfahren und Wiederaufladen. Aber er wollte bloß, wenn wir durch den nächsten Ort kämen, an seine alten Eltern telefonieren, er sei noch am Leben, er würde nur wahrscheinlich sehr spät eintreffen. Verlassen wollte er mich auf keinen Fall.
Als wir uns ans Abladen machten, musste zu allem Überfluss noch ein gefangener Russe mit einem hoch geladenen Strohfuhrwerk daher kommen. Der Wagen schwenkte so bedenklich, dass wir wie aus einem Mund sagten: „Der fährt auch nicht mehr weit!“ Indem schlug er schon um – auf unsere Briketts. Im ersten Augenblick waren wir beide keines Wortes fähig. Dann sprach mein Gefährte, halb ingrimmig, halb ergeben. „Ja, ich sagte es doch, der hat uns noch gefehlt.“
Nachdem er sein Herz mit ein paar kräftigen Flüchen erleichtert hatte, lachten wir alle drei hell auf. Zunächst halfen wir dem Russen. Inzwischen waren noch ein paar diensteifrige Jungen herbeigekommen. So ging das Abladen, Herausfahren und Wiederaufladen schneller und schmerzloser vor sich, als ich anfangs gefürchtet hatte. Ohne weitere Zwischenfälle und unter vergnügtem Plaudern kamen wir in Friedrich Christmanns Heimatdorf an.
Hier hatte sich bereits die ganze männliche Jugend angesammelt. Wie ein Lauffeuer pflanzte es sich fort: Der Christmann und die Elevin sind angekommen! Auf all die neugierigen Fragen antworteten wir stets: „O, es hat sehr gut gegangen, es waren nur so viele Fuhrwerke und so wenig Kohlen auf dem Werk, da mussten wir so lange warten.“ Wir hatten einander versprochen, es nicht zu verraten, dass wir uns festgefahren hatten. Mit herzlichem Händedruck trennten wir uns.
Jetzt hatte ich nur noch eine knappe halbe Stunde bis B. zu fahren; es war stockfinster. Am Dorfeingang nahm mich unser Broneck in Empfang. Ich war zuletzt doch froh, dass ich bald schlafen konnte. Denn da es nass und kalt war, regnete und schneite, hatte ich mich nicht auf den Wagen setzen wollen, sondern war die ganze Zeit zu Fuß gelaufen. Von 3 Uhr morgens bis 9 Uhr abends bin ich auf keinen Stuhl gekommen. Ich hatte 64 Zentner geladen.
Nun will ich aber schließen, denn morgen geht es wieder früh heraus. Heute durfte ich ausschlafen. Broneck hat für mich gefüttert.

6. Stanislawa


Noch etwas anderes Gutes hatte die Winterzeit gebracht: unsere Stanislawa.
Frau Baumann hatte zu Lichtmess einen neuen Stalljungen gedungen. Bis dahin sollte die junge Magd bleiben. Aber die lief, nachdem sie immer fauler geworden, schon im November davon. Frau Baumann dachte, sie könne sich zur Not auch so helfen, da ich sie im Haushalt unterstützte. Broneck, der sonst vor dem Frühstück nur den Kuhstall und den Rinderstall zu reinigen hatte, übernahm einen Teil meiner Arbeit bei den Pferden und Ochsen. Hans, der älteste der drei Buben, legte auch wacker mit Hand an.
Wir freuten uns aber doch, als eines Tages ein halbwüchsiger Junge an der Tür um Arbeit fragte. Er sah recht kräftig aus und konnte leidlich gut melken, dabei war er eine ruhige Natur, nur zu ruhig, denn bei der Arbeit hätte er gern etwas mehr Leben zeigen dürfen. Ob er vielleicht zu viel traurigen Gedanken nachhing? Er konnte einen dauern. Wie er erzählte, hatte er schon früh seine Mutter verloren. Und jetzt im Krieg war seine einzige Schwester gestorben. Von seinem Vater, der als Soldat in Russland stand, hatte er schon lange nichts mehr gehört. Keine Menschenseele nahm sich seiner an. Deshalb behandelte ihn Frau Baumann mit Nachsicht und Freundlichkeit, und ich stellte ihm für seine freie Stunden ein paar gute Bücher zur Verfügung. Man musste eben abwarten, wie er sich weiter entwickeln würde. Wenn er erst ein wenig eingelebt war und regelmäßig die kräftige Kost bekam, dann würde er wohl noch rühriger werden. Er war ja noch kaum drei Tage im Haus. Er war noch nicht einmal auf dem Bürgermeisteramt angemeldet, da seine Papiere auf seiner letzten Stelle geblieben waren. Als er sie hatte, wollte er sogleich das Versäumte nachholen. Mittags um 2 Uhr war er fort gegangen. Um 6 Uhr zum Melken war er noch nicht wieder zurück. Merkwürdig…, ob da etwas nicht in Ordnung war? Es wurde 7-8-9 Uhr. Nein, wie konnten sie den armen Jungen so lange festhalten! Aber die ganze Nacht wollten wir deshalb auch nicht aufbleiben. Am folgenden Morgen begab sich der alte Herr Kerner sofort auf das Bürgermeisteramt. Dort wurde ihm der Bescheid, dass sich am vergangenen Tage überhaupt kein Mensch angemeldet habe. Also war unser Peter durchgebrannt, einfach durchgebrannt. Kurz darauf wollte ihn jemand gesehen haben – bei dem grünen Wagen irgendeines Wanderzirkus. Es kommt doch allerhand vor! Nun dann mussten wir eben sehen, dass wir bis Lichtmess allein fertig wurden. Und es ist auch gut gegangen.
Der neue Schweizer zählte erst 15 Jahre, aber es war eine Lust, dem Franz zuzusehen, wenn er melkte, so flink war er. Bei dem ging alles: eins, zwei, drei. Und wie er sich um alles kümmerte! Den Peter hatte man immer daran erinnern müssen, dass er die kleinen Kälbchen in der Ecke nicht zu tränken vergäße. Bei dem Franz war das nicht nötig. Allerdings fand sich bald eine Erklärung dafür, warum er die dunkle Ecke nicht vergaß, denn als Frau Baumann ohne dass der Junge sie bemerkt hatte, in den Stall kam, konnte sie beobachten, wie der Franz in dem Winkel hockte und in vollen Zügen die Milch aus dem Eimer trank. Als sie ihn störte, wurde er ungezogen, und das Ende vom Lied war, dass er ging. Sein Scheiden berührte uns indessen nicht so schmerzlich, denn tags zuvor war Stanislawa ins Haus gekommen.
Es war schon Abend, als der Vorarbeiter eines benachbarten Gutes an die Tür klopfte und Frau Baumann, die er von früher kannte, fragte, ob sie keine Arbeiterin brauche. Das Polenmädchen, mit seinem Bündel unterm Arm, stand neben ihm. „Eigentlich nicht fürs erste“, meinte Frau Baumann. Aber dann bedachte sie, dass hier eine Gelegenheit war, sich eine Akkordarbeiterin für die Rüben zu sichern. Und Arbeit ließ sich auch jetzt schon finden, zumal für ein Mädchen. Also nahm sie es an.
Stanislawas Äußere war Vertrauen erweckend und wieder auch nicht. Die kurzen, aber muskulösen Arme mit den derben Fäusten würden schon etwas leisten und die breiten Schultern der untersetzten, kleinen Person würden schon etwas aushalten können! Weniger günstig wirkte der Anzug. Der weite, faltenreiche, schwarze Rock, unter dem ein Paar übermäßig große, abgetragene und verschlissene Schuhe herauskamen, wies viele hässliche Flecken und Risse auf, desgleichen die formlose, grellrote, Bluse, die am Rücken mit großen, rostigen Sicherheitsnadeln zusammengesteckt war. Zerfetzte Überreste von schmutzigen Spitzen an Halsausschnitt und Ärmeln vermochten den Gesamteindruck nicht sonderlich zu heben. Die strähnigen Haare, welche am Hinterkopf in ein winzig kleines Schwänzchen zusammengedreht und aufgesteckt waren, hingen tief über beide Ohren. Aber sie umrahmten ein Gesicht, das mit seinem kecken Stumpfnäschen etwas so Gewinnendes haben konnte, wenn es lächelte, dass ich es doch immer gern anschaute, wenn es auch nicht hübsch zu nennen war. Wirklich schön waren nur die blendendweißen Zähne, die beim Sprechen hervorkamen. Während Broneck fließend deutsch sprach, war es bei Stanislawa ein rechtes Radebrechen. Sie war ja noch so jung.
An jenem Abend drückte sie sich in die hinterste Ecke der Küche wie ein verängstigtes Spätzchen. Als Frau Baumann sie freundlich ins Zimmer herein rief, seufzte sie tief auf. Und ihr gesenkter Blick haftete sich fest auf die kurzen, dicken Finger, die sie in komischer Verlegenheit hin und her drehte. Es war nicht viel aus ihr herauszubringen. Ihre Antworten waren meist ein Achselzucken oder ein leises „I weiß nicht.“ Und dann folgte wieder so ein brunnentiefer Seufzer, dass man immer fragen musste: „Aber Stanislawa, ist denn das Leben wirklich so schwer?“
Sie hatte offenbar einen Kummer oder irgendeine Sorge, die sie bedrückte. Und wirklich kam eines Tages ein großer Brief an mit dem Stempel des Kgl. Bayerischen Amtsgerichtes: „Die russisch-politische Arbeiterin Stanislawa Korlenza war zu einer Gefängnishaft von 14 Tagen und einer Geldbuße von 20 Mark verurteilt worden, weil sie unerlaubterweise ihren Dienst aufgegeben und den Polizeibezirk verlassen hat.“ Das Mädchen war außer sich, als Frau Baumann ihm den gefürchteten Strafbefehl vorgelesen hatte.
Die tränengefüllten Augen hefteten sich starr auf das unselige Schreiben. Es tat uns allen leid, und Frau Baumann bat mich, zu einem ihr bekannten Rechtsanwalt in der Stadt zu gehen. Der freundliche Herr empfand auch ein menschliches Rühren mit dem armen Geschöpf und riet mir, im Namen der Arbeiterin ein Immediatgesuch an den König von Bayern zu richten. Stanislawa wusste erst gar nicht, um was es sich handelte. Ich ließ ihr durch Broneck den Sachverhalt erklären. Da kam sie sich denn sehr wichtig vor, als sie ihren Namen unterschrieb; natürlich musste ich ihr dabei die Hand führen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schlang sie auf einmal ihren runden Arm und meinen Hals: „O, du lieb Fräulein, mir so gut!“
Bis jetzt hatte sich noch nie ein Mensch um sie gekümmert. Sie war es gewöhnt, nur als eine unpersönliche Nummer behandelt zu werden. Auf ihrer letzten Stelle, auf dem großen Gut in Bayern, hatte man doch kaum ihren Namen gekannt. Da waren auch zu viele Leute. Stanislawa schätzte sie auf 100. „Deutsch Junken und Mäddchen, polnisch Leute, Gallizis, franzussisch, russisch Gefangene.“ Da waren die einzelnen natürlich nur Herdentiere. „Und war so viel Arbeit und so schlecht Essen und so wenig Geld“, sagte sie. Darum war sie mit mehreren Schicksalsgenossen und -genossinnen davongelaufen. Unter mancherlei Schwierigkeiten hatten sie sich glücklich durchgeschlagen bis ins Rheinland. Nun hatte das arme Ding endlich eine gute Stelle gefunden, wo man ihm menschlich gütig entgegenkam, dafür zeigte Stanislawa eine rührende Dankbarkeit: „Frau Baumann mir so gut“, sagte sie, „ich gerne viel schaffen, dann Frau Baumann froh.“ Mochte sie abends noch so müde sein von ihrer Feld- und Stallarbeit, so lange sie die Hausfrau noch arbeiten sah, half sie ihr und war nicht zum Schlafengehen zu bewegen.
Zum Lohn bekam sie dann Schürzen, alte Schuhe und Kleider, die Frau Baumann, wenn es nötig war, eigenhändig für sie umänderte. So besserte sich auch ihre äußere Erscheinung zusehends. Ja, ihrer Herrin zuliebe, kämmte sie sich sogar ihre Haare aus dem Gesicht.
Sie hatte schon mancherlei durchgemacht in ihren jungen Jahren, und was sie mir mitteilte aus ihrem eigenen Leben und dem ihrer Kreise, hat mir oft zu denken gegeben. Aber die kleine Stanislawa erzählte alles mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit. Sie grübelte still und gleichmäßig vom Montag bis Samstagabend. Und am Sonntag zog sie dann ein sauberes Kleid und ein schönes, weißes Kopftuch an, um der heiligen Messe beizuwohnen. Sie wird wohl kaum etwas davon verstanden haben. Sie, die niemals in eine Schule gegangen war, hatte überhaupt nur sehr schwache und unklare Begriffe von Gott. Aber Er kannte sie und hatte sicher sein

7. Meine besonderen Freunde


Wie ein Freudenfest empfand ich den Tag, als wir zum ersten Mal in diesem Jahr mit der Sämaschine ausfuhren. Wohl hatte man auch im Winter draußen gearbeitet, aber das Leben fehlte, das Leben! Nur vereinzelt war hier und dort in den kahlen Feldern ein Gespann mühsam am Tiefpflug gegangen, daneben ein Knecht, bis an die Ohren vermummt in seinem langen, dunklen Mantel.
Jetzt aber entfaltete sich allerorts eine rege Tätigkeit, es schien sich geradezu alles zusammenzudrängen wie bei einem Volksvergnügen. Der steuerte die Sämaschine, ein zweiter lenkte die Pferde. Dieser trieb die Tiere vor der Egge, jener streute Kunstdünger. Frau und Mädchen mit farbigen Tüchern bückten sich, um Unkraut aufzuraffen. Und die Sonne lachte vom blauen Himmel herab auf all das frohe, bunte Treiben.
Betrachtete man zwar die Einzelheiten näher, so war nicht viel Festliches dabei zu finden. Malerische Volkstrachten gab es in jener Gegend nicht. Die Arbeiter trugen vielfach die bekannten engen blauen Jacken wie die Schlosser und Maschinisten in einer Fabrik. An die Stelle des Sämannes, den Dichter und bildende Künstler so gern in ihren Werken feiern, waren eiserne Maschinen getreten. Ich wiederhole: An und für sich waren diese Einzelheiten recht hässlich, aber als Teil des Ganzen betrachtet, erscheinen zum Beispiel die blauen Jacken und der leuchtend grüne Sämaschinenkasten als lustige, bunte Kleckse auf dem braunen Untergrund des Ackers und erfreuten dennoch das Auge.
Nun war ich auch nicht mehr den ganzen Tag mit den Ochsen allein draußen. Jetzt waren wir immer drei Menschen und vier Tiere. Der Baumannsche Knecht war für einige Zeit zur Frühjahrsbestellung beurlaubt worden. Er und Bronneck arbeiteten stets mit mir zusammen. Während einer der beiden Männer die Ochsen vor der Egge trieb, leitete mir der andere die Pferde vor der Sämaschine, die ich steuerte.
Seit kurzem hatten wir nämlich ein neues Pferd dazu bekommen, einen wundervollen Fuchs mit weißer Stirn und heller Mähne, ein ganz junges Tier, noch keine drei Jahre alt. Herr Baumann, dessen Ersatz-Schwadron vorübergehend in einer größeren rheinischen Stadt lag, hatte es bei einer Versteigerung der Militärverwaltung erworben. Er hatte es damals nur verladen können, weil er keinen Urlaub bekam, um es selber zu bringen. Broneck und ich hatten es abgeholt. Ach, wenn ich daran denke! Ich erinnere mich dessen noch genau.
Als wir gerade beim Nachtessen saßen, brachte man uns Bescheid, soeben sei telefoniert worden, das neue Pferd werde mit dem letzten Zug eintreffen, Broneck solle es abholen. Da dieser sich aber weigerte, nachts allein auf dem Güterbahnhof herumzulaufen, ging ich mit ihm. Es war mir aber keineswegs ein Opfer, wie Frau Baumann annahm. Im Gegenteil: zu Hause wäre ich sicher umgekommen vor Begierde, den neuen Ankömmling, der doch auch mein Pflegebefohlener wurde, zu sehen. So machten wir uns am 9 Uhr auf den Weg. Auf dem Bahnhof wurden wir von Pontius zu Pilatus geschickt. Überall fragte man uns mit einem misstrauischen Blick zunächst barsch: „Was haben Sie hier verloren?“ oder „Was haben Sie hier zu suchen?“ Meine kurze Antwort: „Ein Pferd!“ verblüffte die guten Leute meist. Doch wenn ich ihnen die Sache erst etwas erklärt hatte, waren sie sehr gefällig und hilfsbereit und ließen uns überall durch.
So irrten wir in der Finsternis zwischen den Schienen herum und guckten in jeden Viehwagen hinein. Sehr geheuer war es mir eigentlich nicht dabei. Man musste furchtbar aufpassen, dass einen keine Rangiermaschine erwischte. Ich war recht froh, als wir endlich auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofes standen. Es war nicht mehr weit von 11 Uhr. Leider hatte unsere nächtliche Expedition keinen Erfolg gehabt, wir mussten unsere Trense wieder am Arm hängend zurücktragen. Der Gaul war noch nicht angekommen, wir konnten ihn erst am nächsten Morgen um 9 Uhr heimführen.
So, das war er also! Weder Broneck noch ich sagten ein Wort. Aber jeder las es aus dem enttäuschten Gesicht des anderen: Den hatte ich mir etwas anders vorgestellt. – Ein junger belgischer Hengst – wie stolz das klingt! Aber was wir da vor uns sahen, machte durchaus nicht den Eindruck eines „stolzen Rosses“. Das arme Tier befand sich in einem kläglichen Zustand, es war dem Hungertode nahe. Unter dem glanzlosen, struppigen Fell konnte man, ungelogen, auf hundert Schritt alle Rippen zählen. Die lange, zersauste Mähne verdeckte mitleidig den dürren Hals. Doch das konnte man bei näherer Betrachtung gleich sehen; er hatte gute Knochen und versprach bei fachgemäßer Behandlung noch sehr stark und schön zu werden. Herr Baumann, der ein großer Pferdekenner und –liebhaber war, hatte mir genaue Anweisungen geschickt, und ich darf wohl sagen, dass ich meinen Schützling mit aufrichtiger Liebe und Sorgfalt pflegte.
Es war wirklich eine Freude, zu sehen, wie er gedieh, wie er immer schönere Formen bekam, und das Fell immer glatter und glänzender wurde. Ich hatte ihm mit der Zeit aber auch so viel „Wolle“ ausgekämmt, dass man beinahe eine Matratze damit hätte ausstopfen können. Ich taufte ihn Roland, denn er war wirklich ein Riese, und als er erst richtig bei Kräften war, wurde er das reinste Heldenross.
Und Temperament bekam er! Ich wusste schon, wenn er in seinen Augen so das Weiße zeigte, dann hieß es, Finger zuhalten. Je nachdem ihn der Übermut packte, machte er wohl mal gerne einen „Hupfer“. Einst überraschte er uns sogar durch einen glänzenden Hochsprung. An dem betreffenden Nachmittag hatte ich in der Stadt zu tun und war mit dem Dogcart ausgefahren. „Roland“ weidete in dem Grasgarten an der Straße. Als er mich auf dem Gefährt sah, fing er an, laut zu wiehern. Ich rief ihm im Vorbeifahren irgendein Scherzwort zu. Plötzlich hörte ich hinter mir galoppierenden Hufschlag auf der harten Landstraße und war nicht wenig erstaunt, als ich meinen „Roland“ mit fliegender Mähne heranjagen sah. Er hatte den Zaun des Grasgartens glatt genommen.
Im Allgemeinen war er aber sehr ruhig und scheute vor nichts. Er musste nur noch viel lernen, denn er hatte wohl erst sehr wenig in seinem Leben gearbeitet. So wollte es ihm zum Beispiel gar nicht in seinen dicken Kopf, dass er beim Pflügen das eine Mal in der Furche und das andere Mal daneben gehen sollte. Ich konnte ihm das gut nachfühlen. Der dachte gewiss: Was soll ich eigentlich? Am einen Ende zieht man mich in die Furche, doch wenn ich es mir merke und will es gut machen und gehe am anderen Ende von selber hinein, so ist es wieder nicht recht! Aber ich hatte Geduld mit ihm, und schließlich begriff er es auch.
Er war wirklich sehr willig und ließ sich gut leiten. An der Sämaschine ging er tadellos. Bald hatte er sich an mich gewöhnt, und wenn ich in den Stall trat, so wendete er den Kopf nach der Tür und wieherte mir entgegen. Zwar wusste ich wohl, dass die Freude weniger mir galt, als vielmehr dem Hafer, den er von mir bekam. Trotzdem freute ich mich doch jedes Mal über seine Begrüßung, denn der Roland besaß meine ganze Liebe.
Im schönen Monat Mai hatten wir auch ein freudiges Ereignis im Pferdestall zu verzeichnen. Nämlich ein allerliebstes, munteres Füllen wieherte mit übermütig kecker Stimme, wenn man an den Stall kam, in welchem wir seit einigen Tagen die Stute eingestellt hatten. Es sah aber seiner dunkelbraunen Mutter gar nicht ähnlich, sondern war ein Füchslein mit heller Mähne, hellem Schwanz und schneeweißer Stirn. Es stand schon am ersten Tag so sicher auf seinen strammen Beinchen, dass es ein Staat war. Als es erst so groß war, dass es mit dem Kopf bis ans Fenster reichen konnte, legte es mit Vorliebe sein Kinn auf dem Gesims auf und beobachtete so mit einem geradezu unglaublich frechen Gesicht ganz genau alles, was draußen vorging.
Kam man zum Füttern in den Stall, so passte es schon auf eine Gelegenheit zu entwischen. Und dann ging’s heisassa im Galopp durch den Hof. „Mama Lotte“ lockte umsonst. Der kleine Racker wieherte: „Komm mir doch nach und hol mich, wenn du willst!“ Einen Augenblick zögerte die Mutter. Der Hafer schmeckte gerade so gut. Sie spitzte die Ohren und horchte. Aber der lose Schelm dachte gar nicht daran, zu folgen. Halb ärgerlich, doch von zärtlicher Sorge getrieben, trottete sie denn auch heraus. Darauf hatte das Füllen nur gewartet: die Mutter sollte draußen mit ihm spielen. Das war oft ein Schauspiel auf dem Hof!
Natürlich hörte „Roland“ in seinem Stall bei „Fanny“ und den Ochsen auf den raschen Hufschlag. Da war es um seine Ruhe geschehen. Er wollte doch auch dabei sein. Er rasselte an der Kette, stampfte den Boden und wieherte. „Fanny“, die alte Jungfer, stimmte zur Gesellschaft ein. Die beiden Ochsen mit ihren großen, runden Augen wussten gar nicht, um was es sich handelte. Jedenfalls galt es hier wohl nur, Radau zu machen. Na, daran konnten sie sich auch beteiligen. Unter mächtigem Gebrüll stießen sie kampflustig die Hörner zusammen. – So hatte mir der kleine Dreikäsehoch die ganze Sippe in Aufruhr gebracht.


Bei schönem Wetter machte die Frühjahrsbestellung gute Fortschritte. Hafer und Gerste hatten wir schon im Boden, zuletzt wurden die Rüben gesät. Das war auch gut, denn hier galt es zu zeigen, was man gelernt hatte. Während es sich bei dem Getreide mehr oder weniger nur um einen Schönheitsfehler handelte, wenn man „gezackelt“ hatte, so verlangten die Rüben wirklich eine kerzengrade Radspur, sollten nicht später durch die Arbeit der Hackmaschine zwischen den Reihen zu viele Pflänzchen beschädigt werden. Ich war dann auch sehr glücklich, als Herr Baumann, der einmal über Sonntag in Urlaub da war, nach einem Gang durch die Felder erklärte, von allen Rüben in der Flur seien unsere am besten gesät. „Aber“ schränkte er sein Lob ein. „Balzacks Klaus hat es seinerzeit doch noch besser gekonnt.“
Nun mussten wir bald mit dem Kartoffelsetzen beginnen. Einen Teil des Saatgutes bezogen wir von Frau Baumanns Bruder. Mir ward der Auftrag erteilt, die Fracht zu holen. Ich kannte den Weg schon, da ich im vergangenen Herbst nach beendeter Rübenernte das geliehene Pferd mit Hans zusammen auf das Gut von dessen Onkel zurückgebracht hatte. Damals war es nur derart nebelig gewesen, dass ich von der Gegend nicht viel hatte sehen können. Darum freute ich mich doppelt auf die Fahrt. Dass sie so schön wurde, das hatte ich nicht geahnt.
Um 3 Uhr nachmittags rasselte der schwere Lastkarren aus dem Tor; ich saß stolz drauf wie die Prinzessin Pumphia. Fürstlich war mein Sitz gerade nicht, aber entschieden sinnreich, da er zu gleicher Zeit einem anderen Zweck diente. Es war nämlich ein runder Schließkorb, in welchem ein kleines Schweinchen mitreiste. Sonst waren keine lebenden Insassen auf meiner Hofkutsche.
Ein paar Säcke Kunstdünger machten sich unmanierlich breit und strömten einen ziemlich aufdringlichen Duft aus. So umhüllten mich die verschiedensten Wohlgerüche. Von meinem „Roland“ wehte mir ab und zu etwas Lysol in die Nase, denn ich hatte ihn tags zuvor gründlich damit behandeln müssen, da er als Beutepferd etliches Kleingetier mitgebracht hatte. Aber meine Nase hatte sich während der ländlichen Tätigkeit an allerhand gewöhnt, darum störte sie meinen Naturgenuss nicht durch unnütze Empfindlichkeit.
Es war ein wundervoller Tag, wie im Mai. Bisher war noch keiner so wonnig gewesen. Ach, wie tat der warme Sonnenschein so gut. Er vertrieb die letzten Spuren der Winterkälte, die einem noch in den Gliedern saß. Ich ließ mich mit wohligem Behagen durchglühen. Ich fühlte mich so recht von Herzen wohl und sang aus voller Kehle und frischer Brust in die Frühlingsluft. Klein–Oi-Oi quiekste dazu. Zeitweilig stieg ich ab und ging nebenher. Als wir ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, machten wir vor einem Wirtshaus Halt. Nachdem ich mir für meinen „Roland“ einen frischen Trunk hatte bringen lassen, legte ich ihm ein Bündel Heu vor. Dann bestellte ich bei der Frau Wirtin in der Gaststube auch ein Schöppchen für mich und sah durchs Fenster zu, wie es meinem Rösslein schmeckte.
Nun kam der schönste Teil der Fahrt. Mehrere Kilometer weit ging es durch einen großen Wald, wo der Lenz bereits seinen Einzug gehalten hatte. Mit Worten ist das nicht zu beschreiben. Wohin man sah: ein Knospen und Blühen. Selbst die dunklen Tannen hatten sich mit frischgrünen Spitzchen belebt. Dazwischen wiegten schneeweiße Schlehen- und Dornbüsche ohne Zweige im leisen Frühlingswind und Millionen von Anemonen, Veilchen, Immergrün und Schlüsselblümchen lugten aus dem Moose. Dazu jubilierten die Waldvögelein, dass einem das Herz aufging.
In all dieser Pracht hatte ich keinen Menschen bei mir, der meine Freude hätte teilen können. Aber meinen „Roland“ steckte ich ein blühendes Reislein an. Der schaute auch so munter drein. Die Sonne spielte auf seinem blanken Fell, dass es glänzte wie lauter Gold. Ich habe ihm gar nicht gesagt, wie schön er war, sonst wäre er am Ende noch eitel geworden. Ich hätte so fahren können, wer weiß wie weit, ich wäre es nicht müde geworden. Inzwischen ging der Tag zur Neige. Doch ehe die Sonne ganz hinter den Wipfeln versank, ließ sie mit ihrem purpurnen Scheidegruß an den Weißdornhecken tausend rote Röslein erglühen.
Als wir den Wald verließen, war der Glanz erloschen. Abendfrieden lag über dem Land. Nun war unser Ziel nicht mehr fern. Dort weidete schon die Herde des Herrn Kerner. Der alte Schäfer grüßte mich freundlich. Und jetzt kam auch Herr Kerner selber mir entgegen, gefolgt von seinem braunen Jagdhund. Mein „Rösslein“ freute sich an diesem Abend, glaube ich, noch mehr auf einen guten Stall als es der ganze schöne Frühlingstag beglückt hatte. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass es ihm an nichts mangelte, ging ich mit Herrn Kerner ins Haus, wo mich auch die Hausfrau sehr herzlich empfing.
Nach dem Abendessen gingen wir noch ein wenig ins Freie. Es war wundervoll milde. Wundervoll war auch die tiefe Ruhe ringsum. Das Gut lag abseits der großen Straße auf einem Hügel, nah am Waldesrand. Wir sahen denn auch mehrere Rehe. Am nächsten Morgen zeigte mir Herr Kerner das ganze Anwesen, Hof und Stallanlagen, Gemüsegarten, Park und Fohlenweide. Nun wusste ich, warum die Baumannschen Jungen ihre Ferien am liebsten hier zubrachten. Wir suchten auch die Leute auf dem Felde auf, die am Kartoffelsetzen waren. Zuletzt machten wir einen kurzen Gang in den Wald. Dabei hatten wir das Glück, dass uns fünf Hirsche über den Weg sprangen.
Inzwischen hatte man die für uns bestimmten Kartoffeln abgewogen und in die Karre geschüttet, so dass ich gleich nach dem Mittagessen abfahren konnte. Bis dahin hatte sich auch „Roland“ einigermaßen ausgeruht. Auch diesmal führte ich einen lebenden Passagier mit, ein kleines Lämmchen, das Herr Kerner seinen Neffen schenkte. Frau Kerner gab mir zwei Kannen Petroleum, die sie sich erspart hatte, für ihre Schwägerin mit, die gerne eine Brutmaschine in Gang setzen wollte, aber kein Brennmaterial bekam. Außerdem begleiteten mich zwei alte Jagdgewehre als Leibwächter.
Ach so – ein alter Pflug, der zum Stellmacher sollte, ging mit auf die Reise. Ich kam mir so recht vor wie ein „Ritter der Landstraße“. Das Fuhrmannsleben ist zu schön! Vorbei geht es an Dörfern und Städtchen, vorbei an fruchtbaren Feldern. Ein rascher Gruß fliegt hinüber zu den arbeitenden Bauersleuten, ein lustiger Peitschenknall! Vorbei! Am Wirtshaus, wo man sein Tier ruhen lässt, hält schon ein anderes Fuhrwerk. Der Mann steht daneben und tränkt seinen Gaul. Langsam kommt er heran und betrachtet das neue Pferd von allen Seiten, bewundert hier und tadelt da; beschaut die Zähne und hebt vielleicht einen Huf auf. Natürlich zeigt man selbst auch Interesse für das Pferd des anderen. Bis das Heu alles verzehrt ist, setzt man sich in der Gaststube an einen Tisch und unterhält sich über das Woher und Wohin, über dies und das. Hat man ein Stück des Weges gemeinsam zurückzulegen, so ist es eigentlich selbstverständlich, dass man miteinander geht. Keiner weiß den Namen des anderen, und wenn am nächsten Scheidewege der andere vielleicht links abbiegt, dann sieht man ihn wahrscheinlich in seinem Leben nicht wieder. Aber das tut nichts zur Sache. Auf der Landstraße sind alle wie gute Bekannte.


Die Zeit verging uns nur so im Fluge. Infolge des langen Winters hatte sich die Arbeit ja auch so angehäuft, dass man wirklich oft nicht wusste, wo anfangen. Da musste, abgesehen von dem Säen und Kartoffelsetzen, so viel getan werden, woran der Städter gar nicht denkt. Das Getreide wollte gewalzt, geeggt, die Disteln wollten ausgestochen sein, die Kartoffeln geschleift, gehackt und gehäufelt. Die großen Rübenfelder beanspruchten eine vielseitige Bearbeitung. Das Kratzen, Dünnen, Verziehen und Umhauen besorgten Broneck und Stanislawa. Nur das Hacken und Häufeln taten Hans und ich mit der Maschine. Und so viel Kunstdünger musste gestreut werden!
Ich hatte dem Polen oft dabei zugesehen. Der schritt so leicht und ungezwungen dahin, dass es den Anschein erweckte, als sei eine Ermüdung bei dieser Arbeit gänzlich ausgeschlossen. Wer es aber schon selber getan hat, weiß besser Bescheid. „Dazu werden Sie sich doch nicht hergeben, dass Sie auch noch den blauen Schutzkittel anziehen und Kunstdünger streuen?“ So oder ähnlich hatten zu mir die meisten Männer gesagt, wenn einmal die Rede darauf kam. Aber ich habe es doch gelernt und später immer getan, wenn Broneck und Stanislawa zusammen in den Rüben arbeiteten. Auf einem kleinen Feldchen nahe dem Hause versuchte ich zunächst unter Bronecks Augen, ob mir Schritt und Wurf gelängen und als es damit seine Richtigkeit hatte, lud ich die Anzahl Säcke auf eine Karre und fuhr sie an ein Weizenfeld. Hans brachte den „Roland“ mit der leeren Karre heim. Dann hing ich mir den Streukasten um und schritt wacker drauf los. Da es darauf ankam, dass ich bei der Länge des Stückes nicht von der geraden Richtung abwich, steckte ich mir jedes Mal am Ende einen Stock mit einem roten Tuch auf.
Aber dann machte es mir einige Schwierigkeit, genau mit der vorschriftsmäßigen Menge auszukommen. Beim ersten Sack zeigte es sich bald, dass ich zu viel gegriffen hatte, beim nächsten war ich natürlich ins Gegenteil verfallen, beim dritten endlich hatte ich das rechte Maß herausgefunden. Bis zum Abend hatte ich meine zehn Morgen wirklich geschafft. Aber nun wusste ich auch, dass ich an diesem Nachmittag nicht gefaulenzt hatte. Wenn man zum ersten Mal einen halben Tag lang den schweren Kasten am Hals hängen hat und dabei ständig flott drauf losgegangen ist, dann spürt man seine Schultern. Die Arme hatten doch auch nicht geruht. Und einen Durst hatte ich bekommen! Aber alles, was ich in den Mund bekam, schmeckte nach dem Kunstdünger. Der Staub setze sich überall fest in den Falten des Kittels, in den Wimpern und Brauen, in den Poren der Haut. Wenn es in die Augen kam, tat es empfindlich beißen. Trotzdem war mir, als ich mich erst daran gewöhnt hatte, auch das Kunstdüngerstreuen nicht schwer. Es galt zwar als ausgesprochene Mannsarbeit; aber ich wollte während des Krieges auf diesem Posten ja auch meinen „Mann“ stellen.
So kam es, dass ich mich schließlich sogar am Feldschutz beteiligte. Nach einer neuen Verfügung mussten jede Nacht zwei Männer die Flur abgehen, um etwaige Felddiebe aufzuspüren. Der Reihe nach hatte jedes Haus im Dorf einen Mann zu stellen. Immer Nachbarsleute gingen zusammen. Dem alten Herrn Kerner konnte man es nicht zumuten, Broneck kam als ausländischer Arbeitsmann nicht in Betracht. Sonst war auf unserem Hofe kein Mann. Halb im Scherz hatte erst jemand gesagt: „Da ist doch noch die Fräulein, die tut doch sonst alles. Lasst die doch mitgehen!“ Als man mich fragte, sagte ich natürlich „Ja“. Warum denn nicht? Das machte mir Spaß.
Und so ging ich eines Abends tatsächlich mit unserem Nachbarn hinaus. Uns kam aber doch das Lachen, als wir zu Anfang unsere Patrouille beim Ortsvorsteher „antraten“. Es war eine stockfinstere Nacht, deshalb war’s eigentlich von vornherein so gut wie ausgeschlossen, einen Menschen zu finden, der etwa in einem Bohnen- oder Kartoffelfeld versteckt gewesen wäre. Trotzdem hätte sich uns beinahe Gelegenheit zu einer „Ruhmestat“ geboten. Aber beim näheren Zusehen erwiesen sich die „verdächtigen Gestalten“ als harmlose Urlauber, die sich nur ein wenig verspätet hatten. Um 3 Uhr war unsere „Patrouille“ beendet. Da ich keinen Hausschlüssel hatte niemanden unnötig wecken wollte, schlich ich mich in die Scheune und vergrub mich ins Stroh, bis es Zeit zur Feldarbeit war.
Ich hatte Broneck gebeten, die Pferde und Ochsen zu füttern. Den Klee hatte ich bereits am Vorabend gemäht. Denn es musste jeden Morgen ein schwerer Wagen Klee geholt werden. So ein großer Viehbestand verschlingt etwas, wenn man nichts anderes mehr zu füttern hat. Das Heu war uns zuletzt vor der neuen Ernte auch ausgegangen. An Kleie und Kraftfutter war gar nicht zu denken. Auch hier machte sich der Krieg fühlbar, ebenso wie zum Beispiel in der Ernährung des Federviehs, wo es an den nötigen Körnern fehlte. Man hat da mit Schwierigkeiten zu kämpfen, von denen viele Stadtleute nichts ahnen, wenn sie glauben, die Bauern „schwämmen“ noch immer in Butter, Milch und Eiern.
Broneck konnte für das Kleemähen nicht in Frage kommen. Dessen Akkordarbeit fing um 6 Uhr an. (Dort rechnete man immer nach gleicher Zeit.) Ich konnte aber wegen des Morgentaus vor 8 Uhr doch nichts mit der Hackmaschine, Walze oder Egge im Feld ausrichten. Deshalb übernahm ich die Beschaffung des Grünfutters. Mit der Stallarbeit richtete ich mich so ein, dass ich gewöhnlich nach Feierabend putzte. Während der strengsten Arbeitswochen bekamen wir aber einen Soldaten. Der besorgte es dann statt meiner, während ich draußen war.
Das Kleemähen machte mir immer eine besondere Freude. Es war so herrlich im Feld, frühmorgens, eh’ die Hähne kräh’n. Um 3 ½ Uhr stand ich auf und fütterte die Pferde. Dann schulterte ich die Sense. Es war noch alles totenstill. Die Tritte meiner eisenbeschlagenen Stiefel hallten so seltsam wider. Außer einem Manne, der mir regelmäßig begegnete, war noch kein Mensch zu sehen. In einem Hause rasselten gewöhnlich die Wecker, wenn ich vorüber kam. Zwar war ich oft noch ein bisschen schlaftrunken, aber ich hatte ja eine gute halbe Stunde ins Feld zu wandern, Zeit genug, um richtig wach zu werden.
Der frische Morgenwind tat auch sein Teil dazu. Die Lerchen trillerten noch nicht, aber die Wachteln schlugen „bück de Stück, bück de Stück!“ Ich hörte den Wachtelschlag immer so gerne. Und wie die Hasen herum sprangen, ohne jede Scheu, bis zu zwölf Stück waren oft zusammen. Wie die einander nachjagten und wie sie sich überschlagend herum purzelten! Es war zu drollig.
Meistens ging die Sonne auf, wenn ich anfing zu mähen. Bald darauf ertönte die erste Morgenglocke: eine zweite antwortete, eine dritte fiel ein und so fort. Wenn der letzte Ton verklungen war, dauerte es nimmer lange, so kam Hans mit dem Wagen nach. Er fing schon einstweilen an, aufzuwerfen, bis ich genug Klee da liegen hatte. Dann luden wir zusammen fertig und setzten uns zuletzt oben darauf. Wie schmeckte hernach das Frühstück!
Die Sense habe ich mir immer selbst gedengelt. Ein alter Landstreicher hatte es mich seinerzeit in einem kleinen Eifeldörfchen gelehrt.


Starke Gewitter und wolkenbruchartige Platzregen überraschten uns häufig – vor allem in der ersten Hälfte des Jahres und zwangen uns, die Arbeit zu unterbrechen. Jedes Mal, aber auch ausgerechnet jedes Mal, musste es mich so erwischen, dass ich mitten in das Unwetter hinein kam. Ich war in kurzer Zeit nicht weniger als siebenmal patschnass geworden bis auf die Haut.
An das eine Mal erinnere ich mich noch ganz genau, obwohl es schon im April war: Ich arbeitete mit den zwei Pferden auf einem Weizenfelde, weit draußen. Es war ein furchtbar schwüler Tag, ein Gewitter war eigentlich mit Sicherheit zu erwarten. Ich hatte mir aber in den Kopf gesetzt: Ich gehe nicht eher heim, als bis es Bomben und Granaten wettert.
Denn tags vorher hatte ich abgespannt, als ein Gewitter heraufzog. Es war aber dann doch nicht so sehr schlimm geworden, und man hatte mich recht schief angesehen: Ein richtiger Landarbeiter dürfte erst dann nach Hause kommen, wenn er bis unter die Arme nass sei. Aber –natürlich ja – so ein Mädel, wenn das es mal ein bisschen blitzen sieht…! Das hatte mich denn doch mächtig gefuchst. Mich soll KEINER einen Hasenfuß schelten!
Darum arbeitete ich ruhig weiter, auch als es sich immer mehr zuzog. Von drei Seiten ballten sich drohend die Wolken zusammen, und vereinzelt zuckten schon grelle Blitze auf. Aber ich wollte abwarten, bis das Unwetter wirklich da sei. Es kam zuletzt noch schneller, als ich geglaubt hatte. Jetzt sah ich erst, dass weit und breit kein Mensch mehr in der Flur war. Dort galoppierte noch ein Knecht auf seinem Gaul davon. Und nun ging es los: Blitz auf Blitz und Schlag auf Schlag. Und ein Sturm setzte ein mit solch elementarer Gewalt, dass man sich kaum aufrecht halten konnte. Dazu goss es wie aus Kübeln. In der Zeit von einer knappen Minute war ich so nass wie eine Wasserratte. Nun machte ich aber, dass ich heimkam. Solch ein Wetter hatte ich doch nicht erwartet. Man konnte kaum zehn Schritte weit sehen. Dann wurde es minutenlang gar nicht mehr dunkel von den blendenden Blitzen. Der ganze Himmel flammte, und es war ein Höllenlärm. Wäre ich allein gewesen, so hätte ich mich am besten in einen Graben gelegt. Ich wollte eigentlich ein paar Schritte Abstand halten von den dampfenden Pferden mit ihren eisernen Ketten. Aber die Tiere gingen in dem rasenden Wetter nicht weiter, zumal nicht dem Sturm und Regen entgegen. Sie drehten sich um und blieben mit eingezogenem Schweif stehen. Es half also nichts, ich musste sie führen. Während „Lotte“ den Kopf hängen ließ, bäumte sich „Roland“ bei jedem Schlag jäh in die Höhe, die schreckerfüllten Augen weit aufgerissen. So lang war mir der Weg noch nie vorgekommen, und ich war aufrichtig froh, als ich endlich die ersten Häuser des Dorfes erreicht hatte.
So hat uns das Wetter im letzten Sommer oft bös hereingespielt. Infolge anhaltenden Regens zog sich die Heuernte merklich in die Länge. Sie war kaum beendet, als schon die Getreideernte begann. Broneck und Stanislawa hatten bereits angefangen, den Roggen abzumachen. Aber die großen, großen Weizenfelder konnten einem wirklich Kopfschmerzen verursachen. Die Frucht war sozusagen „über Nacht“ so reif geworden, dass sie auszufallen begann. Es wäre also das Beste gewesen, sie möglichst rasch hintereinander zu mähen. Aber abgesehen davon, dass auf unserem Hofe keiner mit dem „Selbstbinder“ umzugehen wusste, war die Maschine auch nicht im Stand.
Wir hatten bereits mehrere Gesuche geschrieben, um Herrn Baumann heimzubekommen, doch wie es schien vergebens. Es war uns allen wie eine Erlösung, als er eines Abends plötzlich in die Stube trat. „Vorläufig für 14 Tage“, meinte er, „aber meine gänzliche Entlassung steht zu erwarten.“ Der Zurückstellungsbefehl traf denn auch bald ein. Für mich persönlich bedeutete das ja so viel, als das ich nunmehr meiner freiwillig übernommenen Pflichten enthoben sei. Trotzdem versprach ich gern, noch bei der Ernte zu helfen.
Als die großen Sommerferien der städtischen Schulen begannen, kam ein Neffe des Herrn Baumann für einige Wochen. Er war für seine 15 Jahre ungewöhnlich kräftig und zeigte viel Lust und Geschick zur Landarbeit. Zum Unterschied von seinem gleichnamigen Vetter nannten wir ihn den „Städter-Hans“.
Zunächst machten wir uns unter Herrn Baumanns Leitung daran, den „Selbstbinder“ wieder in Ordnung zu bringen; ich musste der Länge nach unter die Maschine kriechen. O, wie sahen wir nachher aus! Wie die Russteufel: schwarz und schmierig, voll Maschinenöl. Aber wir brachten es doch schließlich so weit, dass die „Orgel“ rundlief. Gerade stellten wir das mit großer Freude fest, als der früher bereits erwähnte Soldat aus dem Hofe herauskam: „Herr, das Pümpchen will nicht!“ (Er sollte Jauche ausfahren.) Nachdem Herr Baumann das widerwillige „Pümpchen“ in Gang gebracht hatte, vertiefte er sich von neuem in die Maschinenreparatur. Also die Zahnräder und Ketten arbeiteten. Aber die wichtigen Lattentücher fehlten. Nach einigem Suchen fanden sich in der Kammer unter dem Dach verschiedene Stücke. Zwar waren sie ursprünglich für eine Maschine anderen Systems bestimmt und passten nicht ohne weiteres auf unsere Cormik. Aber „ein geschickter Sattler wird mir aus diesen vier schadhaften Teilen schon drei passende Tücher machen können, wenn man hier abschneidet und da ansetzt und dort ein bisschen kürzt“, meinte Herr Baumann. Ja, du meine Güte, in dieser Zeit ein erfahrener Sattlermeister! Der war Soldat, ebenso gut wie jeder andere auch. Nur seine beiden halbwüchsigen Jungen waren noch da. Herr Baumann erklärte ihnen die Länge und Breite, wie er es haben wollte, ich schliff derweil die Messer. Da kam der Soldat mit Hilfe suchender Gebärde angelaufen: „Herr, das Fass ist mit der Karre umgeschlagen, es läuft alles aus.“ Das war zuviel. „Jott, o Jott, Kinder nee, an der Front war es gemütlicher als bei Euch!“
Bindegarn stand keins zur Verfügung. Deshalb musste stets einer neben der Maschine herlaufen und beim Ablegen etwas nachhelfen. Dann ging es ganz fein. Freilich musste man dabei ein bisschen flink sein und immer genau den richtigen Augenblick abpassen, wenn man seinen Arm in den Ableger streckte, sonst versetzte einem die Maschine einen ordentlichen Schlag. Die gleiche Person konnte dabei zugleich auf den Gang des Apparates achten und nötigenfalls die Flügel versetzen. Herr Baumann und ich lösten uns in dieser Arbeit ab, während Hans und sein Vetter wechselweise die Tiere lenkten. Wir spannten immer drei an, so dass jedes von unseren vieren je einmal einen halben Tag Ruhe hatte. Da die Tiere unmittelbar an den Halmen vorbei gehen mussten, war kein Raum mehr, um sie zu führen. Darum bekam das jeweilig links gehende Pferd einen alten Reitsattel aufgelegt, und der glückliche Lenker stieg „hoch zu Ross“. Broneck, Stanislawa und Marinka, eine junge Tagelöhnerin, banden die Garben und stellten sie auf. So schafften wir jeden Tag ein gutes Stück.
Als das größte Weizenfeld zur Hälfte ab war, wurde uns eine liebliche Überraschung zuteil. Mitten in der Parzelle war eine Senkung. Dort hatte sich, anscheinend während der letzten Regenzeit, ein ansehnlicher See gebildet, darinnen sich des Himmels Bläue spiegelte. Da war mit der Maschine natürlich nichts auszurichten. Herr Baumann fragte mich, ob ich es übernehmen wollte, dort mit der Sense zu hauen, so weit es ging. Natürlich, das machte mir ja Spaß! Hans hob hinter mir auf.
Beim Einfahren des Getreides, da gab es ein Leben! Immer je ein Wagen auf dem Feld, einer wurde in der Scheune abgeladen, und ein dritter war unterwegs. Im Hofe wurden jedes Mal rasch die Gespanne gewechselt. Es traf sich gut, dass der Bruder des Herrn Baumann, der Vater des „Städter-Hans“, sich in seinem Beruf für einige Tage hatte frei machen können und auch zum Helfen kam. Jetzt waren Hände genug da. In knapp acht Tagen war alles eingebracht. Nun nahte für mich die Scheidestunde. Am letzten Abend feierten wir Abschied.
Frau Baumann, die durch Zufall wusste, dass an jenem Datum auch gerade mein Geburtstag war, hatte es sich nicht nehmen lassen, einen Festtagskuchen zu backen. Außerdem überraschte sie – sowie jedes der Kinder- mich mit einem sehr hübschen Geschenk. Ihre Schwester war eigens aus der Stadt gekommen, um mir eine selbst gefertigte Handarbeit zu überreichen. Sie waren alle immer so freundlich und aufmerksam gegen mich gewesen. Ja, die alte Frau Kerner, die Großmutter der Kinder, hatte mir, als es im Winter sehr kalt war, mit eigener Hand schöne, wollene Strümpfe gestrickt. Ich musste an den einen Abend zurückdenken, wo ich zum ersten Mal als Fremde in dieser Stube saß. Der Krieg hatte mich hierhin gewirbelt. Zehn Monate lang hatte ich seitdem Freude und Leid mit der Familie geteilt, und als wir jetzt beieinander saßen, stießen wir zusammen an auf ein frohes Wiedersehen in Friedenszeiten.
Als die Gläser geleert waren, ging ich noch einmal, meiner Gewohnheit gemäß, mit der Laterne in den Stall. Länger als sonst verweilte ich bei den Pferden. Es war mir doch ganz eigen ums Herz.

So gehe ich denn nun von hinnen,
Zum letzten Mal trag ich dies Kleid,
Noch einmal zieh’ an meinen Sinnen
Vorbei, du jüngstvergangne Zeit!

Was hast du alles mir gegeben?
Enttäuschung brachtest du und Glück,
Und unbekanntes, buntes Leben
Entrolltest du vor meinem Blick.

Viel „Poesie und ländlich traute Stille“,
Davon man in der Stadt so gerne spricht,
Und gar wohl „liebliche Idylle“,
Ach nein, die brachtest du mir nicht.

Doch fühlt’ ich niemals darum Reue,
Denn Bess’res hast du mich dafür gelehrt:
Wenn immer man sie übt in steter Treue
auch die geringste, gröbste Arbeit ehrt!

Doch dass sie doppelt lieb mir werde,
hat dies Bewusstsein mir erreicht:
„Mein Schweiß galt ja der Heimaterde!“
Das machte jede Last mir leicht.

Das gab mir Kraft in Frost und Sonnengluten,
Denn immer tiefer hab ich es erkannt:
„Wofür die Brüder kämpfen, bluten,
Wie groß und heilig bist du, Vaterland!“