Wildfang im Pensionat
Eine Jungmädchengeschichte von Angelika Harten (1897)
Ursulinenschule St. Salvator in Münstereifel
Auszug: Ein paar Stunden weiter flussaufwärts. Mitten im wilden Gebirge, liegt auf einem hochragenden Bergkegel eine kleine, altersgraue Kapelle. [Michelsberg bei Mahlberg/Münstereifel]. Sie ist dem heiligen Erzengel Michael geweiht und bildet namentlich im Spätherbst, wann das Fest des Heiligen einfällt [29. September], das Ziel vieler Wallfahrer aus den umliegenden Gebirgsorten. Auch im Kloster war es Gebrauch, die Oberklasse mit einigen Schwestern unter dem Schutz des alten Adam diesen Gang machen zu lassen, der auf dem Hinweg eine Wallfahrt, beim Heimgang aber eine regelrechte Berg- und Waldtour sein sollte. Wochenlang freuten sich die Mädchen auf diesen größten Spaziergang des ganzen Jahres, an dem man früh morgens auszog und erst am Nachmittag zu später Mahlzeit heimkehrte.
Auch heuer zog die Klasse der „oberen Zehn“ mit Mère Paula und Mère Bernarda erwartungsvollen Herzens aus. Der alte Adam und die Magd Marie folgten mit Körben, worin sich allerlei gute Dinge zu einem Picknick befanden, das auf luftiger Bergeshöhe gehalten werden sollte. Unter Gebet und Gesang war der Hinweg zurückgelegt worden und nach dem letzten beschwerlichen Aufstieg standen die Pilgerinnen endlich auf dem steilen Berggipfel.
Tief aufatmend machten sie oben Halt und schauten mit entzückten Blicken in die Runde. Da lagen die dunklen Bergwälder Kuppe an Kuppe wie erstarrte Riesenwellen eines vorzeitlichen Meeres; der wolkenlose Himmelsbogen spannte sich in schimmernder Bläue darüber, und die herbstliche Sonne ergoss ihre goldene Lichtflut über die stille Waldeinsamkeit. Über den Wiesengründen mit ihren silberblitzenden Bächen stiegen die Laubwälder bergan, und niemals waren sie schöner als jetzt, da sie noch einmal aufflammten in tiefem Purpur und sprühendem Gold, ehe des Reifes todbringende Hand ihnen das weiße Sterbekleid wob…
Bald saßen die Mädchen hinter dem Kirchlein in einer Bretterbude, die sonst von den Wallfahrern benutzt wurde; die Schwestern öffneten die Körbe, und alle taten sich gütlich an den guten Dingen, die Mère Josepha, die Schaffnerin, vorsorglich eingepackt hatte. Hilde war in der fröhlichsten Laune. Sie hatte vor der Kapellentür eine Begegnung mit einem alten, stelzfüßigen Hausierer gehabt, der ihr flehentlich zugerufen hatte: „Kaafen Se, gutes Mamsellchen, kaafen Se! Der heilige Erzengel St. Michael, wunderscheen gemalt, Stück for Stück nur fünfzehn Pfennige.“ Das schalkhafte Mädchen ahmte des Mannes Stimme naturgetreu nach und überreichte mit komischer Verbeugung den Schwestern das Bild des Engels, der in zinnoberrotem Gewande aus ultramarinblauen Wolken hervortrat und sein ockergelbes Schwert, das wie ein Brotmesser aussah, auf einen spinatgrünen Lindwurm zückte…
S. 148 Als alle sich gestärkt hatten und den Körben gehörig auf den Grund gegangen waren, wurde der Heimweg angetreten. Heidi! Wie flogen die Mädchen den steilen Berg hinunter! Unten, wo die Tannenwildnis anfing, die hoch und dicht wie ein Urwald sich stundenweit durch ein Nebental hinzieht, erwarteten sie die langsamer schreitenden Schwestern.
„Mary“, rief plötzlich Lilly Francke, „schau’ dort aus dem blauen Dämmer schimmert ein weißes Gemäuer herüber.“
„Am „Decken Tönnes“ wird Antonius der Einsiedler verehrt Zeichnung: Anneliese Zimmer
„Das ist das Antonius-Kapellchen [Decke Tönnes] im Tönisbusch“, erklärte der alte Adam, der soeben mit langen Beinen den Berg hinabkam. „Sie sagen, es sei nicht geheuer da. Vor alten Zeiten soll einmal ein Jude vor dem Standbild des Heiligen gespottet haben, da sei die schwere Statue auf ihn gefallen und habe ihn erschlagen. Seit der Zeit müsse die arme Seele seufzend und klagend unter den Tannen umgehen.“
„Grässlich, entsetzlich!“ riefen die Mädchen. Hilde aber, die wusste, was sie von solchen Gespenstergeschichten zu halten habe, sprang zu den Schwestern hin und erbat für Mary und ihre Begleiterinnen die Erlaubnis, zu dem Kapellchen hinüberzulaufen, damit Mary, falls es malerisch sei, eine Skizze davon aufnehmen könne.
„Ihr dürft euch aber nicht aufhalten und müsst in zehn Minuten wieder bei uns sein“, mahnte Mère Paula.
„Wir sehen ja durch das Dickicht beständig den breiten Weg schimmern“, antwortete Hilde zuversichtlich. „So können wir uns nicht verirren und werden bald wieder bei Ihnen sein.
Schnellfüßig eilten nun Mary, Hilde und Dolly über ein schmales Pfädchen in das Dickicht hinein. Der Boden senkte sich bald einem Sumpfe zu, und zwischen den Urwaldtannen schossen jüngere Erlen und Weiden auf. Ein grünliches Dämmerlicht umfloss die Mädchen, während die hohen Baumwipfel noch im goldenen Sonnenschein sich wiegten. Schon sahen sie das Gemäuer des Kapellchens nahe vor sich, da hörten sie plötzlich ein Knacken in den Zweigen, und als sie sich umschauten, gewahrten sie einen mächtigen Keiler, der geradewegs auf sie zukam. Mit einem gellenden Angstschrei flogen die Mädchen geradeaus, tiefer in den Waldgrund hinein und stießen auf eine Holzhütte. Nun sahen die Mädchen das Ungetüm ruhig in einiger Entfernung vorbeitrotten, ohne das es auch nur die geringste Notiz von ihnen nahm. Offenbar hatte der alte Waldsiedler nur einen kleinen Nachmittagsspaziergang gemacht und wunderte sich im Stillen, dass die Menschenkinder es so eilig hatten…