Der Hirt vom Abendrothügel
Ein Märchen von R. Fabri de Fabris = Angelika Harten
In: Der Gral (2/1907)
Vor grauen Zeiten lebte in einem Tal der Wälder, die viele hundert Meilen von hier gen Mitternacht sich hinziehen, eine Witwe. Ihre einzige Habe waren ein paar Schafe und der kleine Krautgarten hinter der Hütte. Die Schafe weideten auf den Triften am Waldhang.
Nun geschah es an einem Tag von allen Tagen, dass das jüngste Schaf abends nicht mit den anderen zur Herde zurückkehrte. Es war zur grünen Lenzzeit. Der Wald stand im Schneeglanz der wilden Kirschblüte, und Buchen und Birken trugen ihr grüngoldenes Osterkleid. Verlockend kam der Duft von Lenzblumen und jungem Laub aus den Waldgründen. „Das mag mein kleines Schaf wohl angezogen haben, dass es sich von den Brüdern entfernt und nicht mehr heimgefunden hat“, dachte die Frau.
Aber sie war im tiefsten Herzen betrübt, ging in den wilden Wald und rief unaufhörlich den Namen des verlorenen Lieblings. Doch alles blieb still. Nur die Stimme des Windes sang in den Wipfeln der Waldbäume. Da ging die Frau traurig heim. In der Nacht konnte sie nicht schlafen, und sie betete zu Gott, dass sie ihr Schäflein wiederfinden möge.
Am andern Tage suchte sie es in einer anderen Gegend des wilden Waldes, ebenso am dritten und vierten und so immer fort; aber umsonst – es war keine Spur von ihm zu finden.
Am siebenten Tag war sie zum Fuße des Abendrothügels gekommen. Der war höher als alle anderen Hügel ringsum, und wenn man oben auf dem Gipfel stand, konnte man über die Höhen des wilden Waldes sehen wie über die Wogen einer weiten See. Und man konnte abends die hohe Sonne weit in der Ferne hinter einer grauen Wand hinabsinken sehen. Die graue Wand aber war das Meer, das um die Erde geht. Und wie die Frau vor diesem Hügel stand, achtete sie nicht mehr ihre große Müdigkeit. Sie schritt durch Dickicht und Dorn und fürchtete nicht das glatte Gewürm, das züngelnd in den Felsspalten lag, noch den tückischen Wolf, der hungrig im Dickicht strich. Sie dachte nur immerfort. „Vielleicht finde ich oben mein kleines Schaf, vielleicht finde ich es!“ Als sie oben ankam, war da eine große, grüne Lichtung, und der Boden war bedeckt mit tausend roten Blumen. Die sahen alle aus wie Blutstropfen.
Von dem entgegengesetzten Ende der Lichtung kam ein Mann dahergeschritten. Der trug ein langes, ganz weißes Gewand, wie die Leute jener Gegend es nicht zu tragen pflegten. Sein Haar fiel dicht auf die Schultern; um die Stirne trug er einen Königsreif. Aber der war dunkel und seltsam, wie aus grobem Dorngeflecht. In der einen Hand trug der Wanderer einen langen Stab, mit der anderen hielt er ein Lamm auf seiner Schulter fest. Da erkannte die Frau sogleich ihr verlorenes Schaf. An dem schwarzen Stirnflecken erkannte sie es. Und sie lief mit ausgestreckten Händen auf den Fremden zu, und ihre Stimme zitterte vor Leid und Freude, wie sie den Namen ihres Lieblings rief. Der Fremde aber kam eilends näher.
Da bemerkte die Frau, dass der Saum seines Gewandes gerötet war wie von Blut, und dass seine Füße zerrissen und wund waren. Er blickte die Frau an, und in seinen Augen war solch große Güte und Treue, wie sie niemals in eines Menschen Antlitz geschrieben steht. Aber die Frau musste geblendet ihre Augen niederschlagen: auf der Stirne des Wanderers war auf einmal ein Leuchten, wie wenn die Morgensonne auf ein frisches Schneefeld scheint.
In demselben Augenblick entwand sich das junge Schaf der Hand des Hirten und entlief ins Dickicht. Da sank die Frau in die Knie und jammerte laut. Aber der Fremde blickte sie noch einmal mitleidig an und eilte sofort dem Flüchtling nach. Und von dem Blick seiner Augen ward ihre Seele getröstet, und in Geduld ging sie nach Hause und wartete der Dinge, die sich erfüllen mussten.
Es verging die weiße Zeit des Lenzes; es kamen die goldenen Tage des Sommers. Da trieb die Sehnsucht die Frau eines Tages wieder auf den Abendrothügel. Wieder stand sie eine Weile allein. Es war totenstill. Kein Vogel sang; selbst die Stimme des Windes schwieg in den Wipfeln der Waldbäume. Fern am Himmel, über der See der grünen Wälder stand die Wand des Meeres, und darüber war das blutrote Leuchten der Abendsonne.
Da nahten Schritte aus dem Dickicht, und wieder kam der fremde Wandersmann mit dem Schäflein. Aber wie er fast vor der Frau stand, entwand es sich ihm wie beim erstenmal und verschwand im finsteren Walde. Der Fremde eilte sogleich hinter ihm und traurig ging die Frau nach Hause.
Als die goldene Zeit des Sommers vorübergerauscht war und die roten Tage des Herbstes gekommen waren, stieg die Frau zum drittenmal auf den Abendrothügel. Diesmal war der Fremde schon da. Aber er war allein. Seine Füße waren blutiger als vorher, und die Frau sah, dass auch unter dem seltsamen Königsreif auf seiner Stirne große Blutstropfen waren.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte er. Und der Frau war es, als habe sie den Klang dieser Stimme von jung auf gekannt, und sie hörte sie doch heute zum erstenmal. Der Fremde nahm die Frau bei der Hand und führte sie durch das Dickicht der Wälder, bergauf und talab. Und während sie gingen, sah die Frau, dass sich die Spitzen des Grases nicht bogen unter des Wanderers Tritten, und dass seine hohe Gestalt keinen Schatten warf im Licht der Abendsonne. Der Frau schien es, als seien sie noch keine hundert Schritte gegangen, da lag das Meer vor ihnen. Jetzt fasste der Fremde ihre Hand fester, und sie setzten ihre Füße auf das wallende Wasser und schritten so sicher dahin wie über das Moos des Waldbodens.
Und wieder nach hundert Schritten hörte das Meer auf, und sie sahen ein fremdes Land vor sich liegen mit grünen Ebenen und silbernen Strömen, mit blumigen Tälern und blauen Bergen. Hohe Bäume, welche die Frau nie zuvor gesehen hatte, hielten ihre Wipfel wie funkelnde Kronen in das Himmelsblau; tausendstimmig sangen die Vögel und zarter Blumenduft war in der Luft.
„Blicke dorthin!“ sagte der Fremde und wies mit der Hand in ein blühendes Tal. Da sah die Frau ihr kleines Schaf bei einer Herde fremder Tiere, die sie nicht kannte. Und das Schäflein ließ traurig den Kopf hängen; denn die fremden Tiere bedrängten es und taten ihm Leides an. Da sank die Frau auf die Knie und bat: „Herr, hilf ihm!“
„Noch ist sein Tag nicht gekommen“, sagte der Fremde. Da blickte die Frau den Fremden voll Vertrauen an und ergriff seine Hand und küsste sie. Er aber führte sie zurück aus dem fremden Land, über das graue Meer und durch die Finsternis der rauschenden Wälder bis zur Stille des Abendrothügels. Dann war er verschwunden. Die Frau aber ging getröstet in ihre Hütte zurück. Nun fielen die roten Blätter von den Bäumen, und es kam die dunkle Zeit des Winters. Die Frau konnte nun nicht mehr auf den Abendrothügel steigen; denn ein tiefer Schnee hatte alle Wege und Stege zugedeckt.
Sie saß eines Abends am Spinnrocken vor dem Feuer in ihrer Hütte und gedachte des fremden Wanderers und ihres verlorenen Schäfleins. Und ein tiefes Sehnen war in ihrem Herzen. Da hörte sie plötzlich ein Scharren und Schnuppern an ihrer Türe, und wie sie öffnete, stand das verlorene Tierlein da und sprang liebkosend an ihr hinauf. Da nahm sie es in ihre Arme und dankte Gott unter Freudentränen. In ihrem Herzen aber blieb die Sehnsucht nach dem Hirt vom Abendrothügel ihr Leben lang.
Kommende Herrlichkeit
Die hohe Gottessonne
Wirft ihren güldnen Schein
Mit vollen Segenshänden
In die lächelnde Welt hinein.
Von den Birken rieselt’s silbern,
Smaragden schimmert der Plan,
Und blutrot fangen die Ästlein
Der Weiden zu leuchten an.
Die Wasser rauschen und raunen
Vom Lenze ein uraltes Lied,
Bis ein heimlich süßes Sehnen
Durch die träumenden Gründe zieht.
Du schreitest an meiner Seite
Im schimmernden Frühlingskleid
Und schauest mit leuchtenden Augen
In die werdende Herrlichkeit.
Weit breitest du die Arme,
zu fassen das heimliche Glück,
Und was mein Mund mir verschweiget,
Das kündet dein strahlender Blick:
„Wie schön ist’s in der Weite,
Das Glück und die Liebe geh’n um,
Ich bin so überselig
Und weiß kaum selbst warum. “
Fabri de Fabri, Aachen
In: Literarische Warte, 1901/02