Die Heimkehr
Eine Weihnachtsgeschichte
von Sophie Lange (1996)
Ganz instinktiv bog er in den Waldweg ein; er bremste, stellte den Motor ab und schaltete das Licht aus. Im Rückspiegel sah er Autos fahren. Er konnte die Wagen auf der Landstraße sehen, aber auch die Fahrzeuge auf der höher gelegenen Autobahn. Die Landstraße kannte er von früher, die Autobahn war neu. Vor sieben Jahren war diese Schnellstraße noch Utopie gewesen.
Es war ihm nicht klar, warum er kurz vor dem Ziel noch anhielt. Was hinderte ihn, das letzte Wegstück zurückzulegen? Sinnend beobachtete er im Rückspiegel die beiden Straßen und das sich stets ändernde Bild, das ihm wie ein Filmstreifen vorkam; ein Film, in dem er bis eben mitgespielt hatte.
Dann glitt sein Blick in den dämmrigen Wald. Wie oft hatte er in der Fremde im Geiste die Eifelwälder vor sich gesehen; schillernd im satten Grün, farbenprächtig im bunten Laub, schemenhaft verhüllt im wallenden Nebel, sich wiegend und wogend in Wind und Sturm, niedergebeugt von schweren Schneelasten; düster und bedrückend, verheißend und geheimnisvoll.
Er kurbelte die Scheibe herunter. Von ferne drang das auf - und abschwellende Brausen der Autos, ganz nah klang das gleichmäßige, flüsternde Raunen des Waldes; zwei Welten – die Welt der Unrast und Hektik und die Welt der Ruhe und Beständigkeit. Vor sieben Jahren hatte er diese ruhige Welt, das eintönige Leben in dem kleinen Eifeldorf nicht mehr aushalten können. Er war in die große Welt der Abenteuer geflohen. Sein Ziel war irgendwo und „anderswo“ gewesen. Er wollte die ruhelose Sehnsucht nach der Ferne stillen und lernte das verzehrende Verlangen nach der Heimat kennen. Er wollte dem Dorf entrinnen, wo jeder jeden kannte und erfuhr die Verlassenheit in den Städten, wo niemand niemanden kannte.
Mit all seinen Sinnen nahm er nun die Umgebung wahr. Gleichzeitig durchfluteten und beseelten ihn die beiden Welten, die er stets so drastisch voneinander trennte. Wie das Brausen der Autos und das Rauschen des Waldes zu einem einzigen Geräusch verschmolzen, so wuchsen die beiden Welten in ihm zu einem alles umfassenden Eins. Er spürte nicht die Zeit, die verstrich, er fühlte nicht die Kälte, die ihn anschlich, er atmete nur tief die frische Luft ein. Heimat!
„Was machen Sie denn hier?“ Diese Worte rissen ihn aus seiner Versunkenheit. Am Wagen stand ein Mann; ein Förster, erkannte er in der Dämmerung. „Haben Sie nicht gesehen, dass dieser Weg gesperrt ist?“ fragte dieser unwirsch.
„Ich wollte nur ein wenig rasten“, kam die Antwort.
„Rasten!“ klang es zynisch. „Ich weiß genau, was Sie vorhaben. Sie beabsichtigen, in der Dunkelheit einen Tannenbaum zu stehlen.“
„Aber gewiss nicht“ beteuerte der Angesprochene und mit einem Mal war es ihm wieder voll bewusst, was ihn nach Hause getrieben hatte. Weihnachten! Er hatte nur einen Wunsch gehabt, Weihnachten zu Hause zu sein. Jetzt flammte eine Taschenlampe auf, deren Licht ihn voll ins Gesicht traf. „Mensch, das ist doch...“ rief der Förster überrascht aus, „ja, tatsächlich, das ist ja der Alfred!“ Der Lichtschein erhellte jetzt auch das Gesicht des Försters und Alfred erkannte einen ehemaligen Schulkameraden aus seinem Heimatort. Er stieg aus dem Auto, und es folgte eine freudige Begrüßung.
„Stefan! Du bist wirklich Förster geworden, wie du es dir von Kindheit an gewünscht hast?“ „Ja, Alfred, und du bist wieder heimgekehrt“, freute sich der Förster und er drängte, bis Alfred kurz von seinen „Wanderjahren“ erzählte; von seiner Arbeit in Nordafrika, seinem Tramp durch Amerika, seiner Rückkehr nach Europa und seinem Heimweh nach der Eifel und seinem Zuhause.
„Die Freude deiner Eltern wird unbeschreiblich sein!“ Freundschaftlich schlug der Förster den Heimkehrer auf die Schultern. „Weißt du, Stefan, ich scheue mich etwas, so ohne Ankündigung zu Hause aufzutauchen“; gestand Alfred. “Bitte, sage mir, wie es meinen Eltern geht.“ Nun erzählte der Förster von Alfreds Vater, den das Rheuma so sehr plagte, dass er nicht mehr viel arbeiten konnte und der nach dem “Aussteigen“ des Sohnes noch wortkarger geworden war.
„Und die Mutter?“ Alfreds Stimme brach fast. Der Förster berichtete bereitwillig: „Die Mutter, die schuftet wie eh und je, nicht nur für zwei, sondern für drei. Haus und Hof sollen tipptopp in Ordnung sein, wenn Alfred zurückkommt; das sagt sie jedem, der ihr irgendwie dumm kommt.“
Alfred schluckte. Wie gut, dass er nach Hause gefunden hatte. Hier wurde er gebraucht, hier wurde er voller Liebe erwartet. Deutlich sah er in diesem Augenblick die Begrüßung vor sich. Ein fester Händedruck des Vaters würde mehr sagen als Worte. Und auch die Mutter würde keine große Willkommenszeremonie veranstalten; das war nicht Eifeler Art. Sie würde ihre Freude und ihre Rührung hinter geschäftigem Treiben verbergen.
„Der kleine Freddy wird staunen“, unterstrich der Förster Alfreds Gedankengang. „Wer ist denn Freddy?“ kam die verwunderte Frage. Der Förster lachte, „Das kommt davon, wenn man jahrelang durch die Welt bummelt und sich nie zu Hause meldet.“ Erklärend fuhr er fort. „Deine Schwester hat schon kurz nach deinem Weggehen geheiratet. Sie hat ein Söhnchen, den Freddy, und du bist in Abwesenheit zum „Pättche“ bestimmt worden.“
„Ich muss nach Hause, sofort!“ Hastig stieg Alfred in das Auto. Sieben Jahre war er von zu Hause fort gewesen, aber nun durfte die Trennung nicht eine Minute länger währen. Endlich hatte er sein Ziel erreicht, endlich war er da, wo er hingehörte, zu Hause.
Als Alfred schon den Wagen startete, rief der Förster ihm noch zu: „Komm morgen mal zu mir; ich habe einen schönen Weihnachtsbaum für dich.“ Weihnachten! Es würde ein frohes Fest werden.
In: „Und er hat sein helles Licht bei der Nacht...“ Eifeler Weihnachtslesebuch, herausgegeben von Manfred Lang, 1996