Im Anfang war die Kall
Im Anfang war die Kall
von Winfried Mauel, Köln:
Monschauer Jahrbuch 1995
Beim Radeln über die Eifelhöhen und durch die tief eingeschnittenen Täler überkommt mich nicht selten die Lust zu singen. So auch an einem heißen Augusttag des Jahrhundertsommers 1994.
Nach Überwindung des Buhlert – in Schweiß gebadet gerade eingetaucht in das schattenspendende Tal der Kall – kommt mir spontan ein Lied über die Lippen, das ich an dieser Stelle weit ab von Köln nicht erwartet hatte, das Lied vom „Kallendresser“. Der Teufel oder Franz-Josef Antwerpes müssen mich wohl geritten haben, in diesem lauschigen Tal, wo die Welt doch noch in Ordnung zu sein scheint, „schmutzige“ Lieder zu singen. Erfahrungsgemäß ist ja beim Singen das Gefühl mehr beteiligt als der Kopf. Was wohl mag mich bewegt haben, als ich als Kölner den Refrain vom „Huus am Aldermaat“ anstimmte, „wo e Männchen…singe Bakke zeig
un sie zwett Geseech erus stipp“:
„Ki-Ka-Kallendresser, hev et Hembche huh!
Ki-Ka-Kallendresser, mähs de Minsche fruh.
Häste Ärger un Verdross, mähste deer nix drus,
denkste nor wie Goldschmeddsjung
un stipps dä Mond eruus.“
Für Nichtkölner: Der „Kallendresser“ ist die Darstellung eines Buben, der hoch oben an einem Haus am Aldermaat sein Geschäft in eine Regenrinne („en Kall“) erledigt. Nun ja, ich hatte am Morgen in der Zeitung gelesen, die Klage des Herrn Regierungspräsidenten sei berechtigt, der erklärt hatte, das Vieh erleichtere sich zu gerne im Bereich des nahen Bachlaufs und schmälere so die Qualität des kostbaren Nasses der Kall.
Ich will mich aber an diesem schönen Sommertag nicht weiter auf das traurige Kapitel Trinkwasserverunreinigung einlassen und setze in aufkommendem Trotz – oder ist es heiliger Zorn? – meiner anklingenden miesen Stimmung das Lied „Dat Wasser vun Kölle is jot“ als Kontrapunkt entgegen. Umgehend erfahre ich, welche produktiven Kräfte positives Denken freimachen kann!
Mich überkommt die Lust am Sprachvergleich. Assoziativ verbinde ich die KALL, die als KALLbach im Venn entspringt und durch die KALLtalsperre als KALL bei ZerKALL in die Rur mündet, mit „die Kall in Kölle“. Haben die beiden Namen vielleicht die gleiche Wurzel?
In meinem Eifeldomizil schlug ich wenige Stunden später das Wörterbuch der Aachener Mundart, den „Aachener Sprachschatz“ von W. Hermanns auf und fand dort auf Seite 271: „Kall für Dachrinne, Dachtraufe (lat. canalis, Röhre, K. Kall)“ Die Abkürzung „K“ verwies mich wieder zurück in meinen Heimatort Köln, steht sie doch für „Kölner Mundart“. Was lag näher als dort im „Neuer Kölner Sprachschatz“ von Adam Wrede weiter zu schmökern. Auf Seite 9 des zweiten Bandes stelle ich fest, dass Kall „eines der ältesten kölschen Wörter lat. Ursprungs“ ist. Nach Wrede ist die Entwicklungsfolge „für das kölsche Kall: canalis, kanle, kall (mit ll aus nl), kall.“
Ich überlegte weiter: Die Römer siedelten in Köln, sie bevorzugten bereits für ihre „Datschen“ die Eifelhöhen (z.B. eine Villa auf dem Buhlert). Sollten sie es vielleicht gewesen sein, die diesem Fluss einen lateinischen Namen gegeben haben, aus dem sich dann im Laufe der folgenden Jahrhunderte durch lautliche Veränderungen die heutige KALL entwickelte, als sogenanntes Lehnwort wie die „kölsche KALL“ aus „canalis (siehe oben)? Zur Erinnerung hier eines der bekanntesten Lehnwörter: unser heutiges Fenster entlehnt sich dem lat. „fenestra“.
Ich radelte auf dem immer spannender werdenden Pfad des Sprachvergleichs weiter und suchte nach Analogien bzw. „Namensvettern“. Den ersten fand ich im Ortsnamen KALL, da wo auch ein KALLbach in die Urft mündet, die früher auch schon mal als CALL durchging. Im Archiv des dortigen Rathauses musste ich registrieren, dass ich geschichtlich mit meiner Theorie zu kurz gegriffen hatte. Nicht bei den Römern, sondern bei den Kelten sind die Sprachwurzeln für die Eifeler KALL zu suchen.
Der Pfarrer Peter Schmitz hat 1928 in seiner „Geschichte der Pfarre Call“ versucht, das Wort Call zu deuten. Mit Hilfe von drei Autoren (F.W. Olligschläger, Dr. Franz Cramer, Quirin Esser, die bereits vor mehr als hundert Jahren Sprachforschung betrieben) kommt er zu folgenden Deutungen:
- Call als Ableitung von „Vacal“, in welchem die erste Silbe abgefallen ist. Matronae Vacallinehae sind meist in der Dreizahl dargestellte weibliche Gottheiten mit Beinamen, die einem Fluss- oder Ortsnamen entlehnt sind. Solche Matronen wurden z. B. gefunden in Antweiler und Wachendorf im Kreise Euskirchen, beide an fließendem Wasser gelegen. Der Pfarrer schreibt auf Seite 7 weiter: „Mehr oder weniger von den Fundorten entfernt können wir in der Call, welche bei Nideggen in die Rur mündet, sowie in Callmuth und Keldenich ein Vacal vermuten.“
- Call ist herzuleiten von zwei gallischen Flüssen: Callus (jetzt la Chèe) und Calla, beide bereits im 7. Jahrhundert genannt.
- Call ist eine „Namensschwester“ von einem Flüsschen, la Golle, alt Galliola, „welche Esser als Callogila deutet. Jedenfalls kommt derselbe Flussnamenstamm vor in dem Call-bach, der auf dem hohen Venn entspringt und in die Rur geht: an ihm liegen Simonskall und Zerkall.
Im Kreise Monschau gibt es noch ein Callbrück, im Kreise Schleiden ein Kall und ein Kallerheistert. Zweifelhaft ist es, ob dieses „call“ sich deckt mit „kal“ gleich „hart sein“ oder ob ein Zusammenhang mit dem altindischen kala gleich „schwarz, dunkel“ vorliegt. Esser entscheidet sich für das letztere, hält also die Cal-bäche für „Schwarzbäche“. (P. Schmitz, S. 8). Dieser Deutung von Esser in der „gallo-keltischen Namenkunde, Malmedy 1884“ folgt auch der Kaller Malermeister und Heimatforscher aus Leidenschaft in seiner 1977 in Kall erschienen Schrift „Kall, wie es war und ist“, Heft 1 Seite 6.
Um die Deutungen des rührigen Pfarrers aus Call (1928) zu überprüfen, schlug ich bei Hans Bahlow „Deutschlands geographische Namenwelt“ Frankfurt 1985, unter dem Stichwort „Kalle“, Seite 248, nach und fand dort: „Kalle an der Kalle bei Meschede entspricht Talle an der Talle in Lippe: tal, kal = schmutzige Flüssigkeit (altindisch-slawisch: kal-)
An dieser Stelle musste ich schmunzeln. Hatte ich nicht vor Tagen angesichts der KALL ein „schmutziges“ Lied angestimmt? Natürlich meint Bahlow nicht die „schmutzige Flüssigkeit“, die uns heutzutage in ihrer Zusammensetzung aus Gülle, Nitraten, Pestiziden und Herbiziden beunruhigt. Er beschreibt Wasser, das auf natürliche Weise durch Moder, Moor, Sumpf, Fäulnis, Schlamm usw. „schwarz“ wird. Schauen wir uns daraufhin mal die schwarzen Tümpel im Venn an!
Unter „Kalle“ zählt dann Bahlow eine Vielzahl von Flüssen in England, Schottland, Irland, Frankreich, Italien mit dem Stammwort CAL auf. Er weist sogar auf den großen irischen Dichter J. Joyce hin, der irisch call-adh als „sumpfige Wiese“ verwendet. „Eine Kalle liegt auch an der Vechte und bei Verden, ein Kall bei Schleiden (mit Kallmuth)“. Allen gemeinsam sind: …“lauter, nasse, sumpfige Bachwinkel“.
Bahlow weist darauf hin, dass neben den Bodenfunden die ältesten Gewässernamen Europas die einzige Quelle sind, um uns Aufschlüsse über die Sprach- und Völkergeographie Alteuropas zu liefern. Der Ursprung dieser Namen liege weit vor der Zeit, aus der noch schriftliche Kunde zu uns dringt. Namen also, die zum Teil auf ein Alter von 3.000 bis 4.000 Jahre Anspruch erheben können.
Das sprachliche Abenteuer geht aber noch weiter, folgt man den Thesen des Sprachforschers Richard Fester. Er fand in den fünfziger Jahren heraus, dass alle menschlichen Sprachen einen gemeinsamen Urwortschatz haben. Er entdeckte sechs Archetypen oder Erstprägungen: BA – KALL – TAL – TAG - OS – ACQ.
Findet sich BA überall dort, wo es um Menschen geht, um Bauen und Wohnen, so steht KALL für Vertiefungen, Niederungen, Senken, Seen, Sümpfe, Flussbette, Mündungen, Höhlen, Zugänge und Wege. Es stehe sogar kaum verändert in Quelle (Hören Sie mal in die Worte hinein; Kall – Quelle). Für KALL im Zusammenhang mit Mündungen verweist Fester auf Kehl an der Mündung der Kinzig in den Rhein, Kall’münz an der Vils in den Regen, Kahl an der Mündung eines Baches in den Main.
„Weil aber nun KALL zugleich für die Frau und die mütterlichen Gottheiten steht, warfen die Gläubigen der Vorzeit Opfergaben auch in Mündungen, wie zum Beispiel in den Wasserlauf La Tène, dort, wo er in den Bieler See mündet. Nach den reichen Funden einer deutlich von anderen Epochen unterscheidbaren Zeit spricht man heute von der La-Tène-Zeit“ (Seite 74 f)
Spannt sich hier ein Bogen hin zu den Matronen, den weiblichen Gottheiten von Wachendorf und Antweiler? [Es gehören noch Satzvey, Pesch und Weyer dazu.] Mir scheint, meine abenteuerliche Reise mit dem Fahrrad in die Vorzeit ist noch nicht zu Ende. Die etwas gewagte Überschrift „Im Anfang war die KALL“ bedarf sicher einer fundierteren Begründung. Hier sei vorläufig mit R. Fester festgehalten: „Entzöge man einer heutigen Sprache ihre KALL – Abkömmlinge, könnte man keinen zusammenhängenden Satz mehr sprechen, gleich ob europäisch, afrikanisch, mongolisch, indianisch oder australisch. Es ist, grob gerechnet, mit 30 Prozent in den Wortschätzen vertreten“ (zitiert nach J.-E. Berendt, Seite 333).
Ich sitze inzwischen wieder auf meinem Fahrrad und radele KALL - abwärts. Ich hadere etwas mit Bahlow und Fester, dass sie dieses mir ans Herz gewachsene Flüsschen übersehen haben. Was mich versöhnt: Wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt, so stellen sie meine KALL in einen „globalen“ Zusammenhang, der vielleicht auch Sie, lieber Leser, fasziniert.
Mein „Kallendresserlied“ hab ich längst „vergessen“. In der Abendsonne werde ich ganz still und höre auf ihr Murmeln, verstehe sogar ihre Sprache. Sie erzählt mir von ihren kleinen großen Schwestern und Brüdern in aller Welt, in denen das Wort KALL mitschwingt, mitklingt. Hören Sie den Gleich - KLANG? Und: Solange ALLES FLIESST (Heraklit) – und das ist der gemeinsame Nenner aller KALLEN -, stehen Welt und Verdauung im EIN-KLANG:
Nachtrag:
Bei meinen Recherchen über die Herkunft des Wortes Call-Kall beging ich eine Unterlassungssünde. Ich vernachlässigte das Telefonbuch. Dort sprudelt alleine unter Monschau-Konzen das Wort Call-Kall aus mehr als 20 Familiennamen hervor. Grund genug für den mit systematischem Fleiß forschenden Hans Steinröx aus Konzen in „Die alten Konzener Familiennamen“ Monschau 1989, nach der Herkunft des Wortes Call – Kall zu fragen. Auch er vermutet die Ableitung vom keltischen „callos“ = dunkel. Sein weiterer Hinweis auf Sprachforscher, die Call vom „germanischen Wort „kallen = viel und laut reden“ herleiten, ließ mein kölsches Herz hüpfen. Steinröx: „… danach wären die Kallbäche als munter plaudernde Schwatzbäche anzusehen wie etwa die Klingelbäche…“ (Seite 17).
Ich hatte mich nicht getraut, das identische kölsche „kalle“ = schwatzen, laut sprechen, drauflosreden in meinen Beitrag einzubringen. Nun aber kann ich getrost – mit dem Segen aus Konzen - meine Schlusssätze oben erweitern durch einen kölschen Satz: „Nix es schöner wie an nem Summerdach met dä Kall en beßje ze kalle. Mer han verjnöchlich zesamme jekallt.“ Ratsam ist nur, mehr hinzuhören als „selvs zu kalle.“
Literatur
Bahlow, Hans: Deutschlands geographische Namenwelt, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt 1985
Berendt, Joachim-Ernst: Das dritte Ohr, Rowohlt, Hamburg 1985
Fester, Richard u.a.: Weib und Macht, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1988
Hermanns, Willi: Wörterbuch der Aachener Mundart, Aachen 1970
Schmitz, Peter: Geschichte der Pfarrei Kall, Kall 1922
Sistig, Franz: Kall, wie es war, wie es ist, Kall 1977
Wrede, Adam: Neuer Kölnischer Sprachschatz, Köln 196