Im Tal der wogenden Nebel

von Sophie Lange

In: Ralf Kramp, Manfred Lang: Abendgrauen, Elsdorf 1999, Seite 171 - 175

Wenn ich heute Gruppen zu den gallo - römischen Matronentempeln in Nettersheim und Nöthen/Pesch führe und über die Göttinnen der Vergangenheit berichte, fragt mich im Laufe der Exkursion fast immer jemand: "Wie kamen Sie eigentlich zu den Matronen?" Darauf gibt es meinerseits eine ganz klare Antwort: "Ich bin nicht zu den Matronen gekommen, die Matronen kamen zu mir." Manchmal erzähle ich dann, wie alles anfing.

Es war an einem Junitag, so nach 1970. Wir hatten Ferienkinder zu Besuch und unternahmen jeden Tag etwas; wanderten durch den Wald, radelten zu Nachbarorten, machten Picknick. Heute hatten unsere Kinder einen besonderen Wunsch: "Wir möchten eine Nachtwanderung machen." Davon waren auch die Ferienkinder begeistert.

Kurz vor 22 Uhr brach ich mit den Kindern auf. Unsere Hündin begleitete uns. Vorsichtshalber nahmen wir eine Taschenlampe mit. Als wir aus dem Haus gingen, waren die Kinder aufgeregt und ausgelassen. Von Müdigkeit keine Spur! Sobald wir das Dorf hinter uns gelassen hatten, wurden sie ruhiger. Auch die Hündin, die bis jetzt ungeduldig an der Leine gezerrt hatte, ging nun brav bei Fuß.

Es war ein schöner Abend, mild und friedlich. Sanft ging die Abenddämmerung in die Nachtdunkelheit über. Der Mond stand voll am Himmel; Sterne waren jedoch nicht zu sehen. Wir stiegen von der Nettersheimer Höhe hinab ins Schleifbachtal und warfen dabei einen Blick nach rechts auf den Resterberg und den Galgenstrunk. Bereits von der Höhe aus sahen wir, dass feine Nebelschwaden das Tal durchzogen. Als wir weitergingen, schien es, als ob der Abendnebel uns entgegen kroch. Schon bald hatten uns die kühlen, feuchten Schleier erreicht, wallten um uns herum und hüllten uns schließlich ganz ein. Der Nebel schluckte jedes Geräusch; selbst unsere Schritte waren nicht mehr zu hören. Wir rückten näher zusammen.

Mir wurde ganz eigentümlich zumute. Es war mir, als ob ich auf federleichten Wolken ging, auf wolligweicher Watte. Die Erde hatte sich aufgelöst, zumindest hatte ich den Boden unter den Füßen verloren. Und auch mein Körper löste sich langsam auf; er war kaum noch vorhanden. "Lasst uns zurückgehen", sagte ich mit belegter Stimme. Doch davon wollten die Kinder nichts wissen. So marschierten wir weiter und bogen unten nach rechts in den Talweg ein, der entlang des Schleifbachs in Richtung Marmagen zu den Quellen des Baches führt. Eingeschlossen wurden wir von den kleinen Anhöhen zu beiden Seiten.

Auch die Kinder wurden von der geheimnisvollen Atmosphäre eingefangen. "Unheimlich!" flüsterten sie und die Kleinste meinte: "Ich sehe Feen, da unten am Bach!" Alle schauten gebannt in die Richtung, nur der Größte blieb unbeeindruckt. "Das ist der Nebel, der wallt und wogt hin und her und das sieht dann aus wie irgendwelche nebelhafte Gestalten."

Ich schritt noch immer wie auf Wolken. Mir war schwindlig, alles drehte sich und ich befürchtete, einfach umzukippen. Ich atmete tief durch. Langsam wurde mir bewusst, dass ich zwar das Gefühl hatte, das Gleichgewicht zu verlieren, aber dass ich doch nicht umfiel, nur etwas wankte und schwankte. Irgendetwas hielt mich aufrecht. Das beruhigte mich.

Beim Weitergehen durch das kleine Tal versuchte ich herauszufinden, was die unheimliche Stimmung hervorrief. Nicht nur der immer dichter werdende Nebel am Bach jagte mir kalte Schauer über den Rücken, sondern auch der Hügel zu unserer linken Seite strahlte etwas Geheimnisvolles aus.

Abendstimmung im Schleifbachtal von Diana Melzer-Peters

Es wurde dunkler und dunkler im Tal der wogenden Nebel. Der Mond war hinter dem langgestreckten Hügelrücken untergetaucht. Die Hügelkuppe wurde jedoch von einem zarten Licht erhellt, das jedoch nicht von oben kam, sondern in Form von Erdstrahlen aus dem Boden hervordrang. Ich blieb stehen und schaute fasziniert nach oben. Obwohl ich noch nie auf dieser Hügelspitze gewesen war, schien es mir, dass ich dort etwas finden könnte, was ich vor langer Zeit verloren hatte und schon seit Ewigkeiten suchte. Ein unfassbares Sehnen, gepaart mit einer tiefen Traurigkeit, ergriff mich. Was hatte ich verloren? Konnte ich das Mysteriöse wiederfinden? Oder war es greifbar nahe und doch nicht greifbar?

Bei diesem Gedanken geschah es: Urplötzlich sprang mich von hinten etwas an, genau in den Nacken, dort, wo die Angst hockt. Ich schrie auf und schlug voll panischer Angst wild um mich. Da spürte ich, dass etwas meine linke Wange streifte, wie eine eisige Geisterhand, wie ein gespenstiger Schatten. Ich stand wie erstarrt, mit offenem Mund, konnte keinen Schritt mehr weitergehen, weder vor noch zurück. "Komm, wir gehen zurück!" sagte eines der Kinder ängstlich. Aber zurück wollte ich auf keinen Fall. Von hinten hatte mich doch das Unfassbare angesprungen!

Unser Großer nahm die Taschenlampe und beleuchtete mich von oben bis unten, von hinten und vorne. "Da ist nichts. Was hast du denn?" fragte er cool. "Irgendetwas hat mich gestreift!" erklärte ich zitternd. "Sicher ein Nachtvogel!" meinte er. "Vielleicht!" sagte ich. Die Hündin zog energisch an der Leine. Weiter, weiter!

Eigentlich wollten wir noch das Thomaswäldchen durchstreifen. Aber ohne Worte waren wir uns einig, dass wir nicht in den dunklen Waldweg einbiegen wollten. So strebten wir wieder der Höhe zu, von der wir gekommen waren. Als wir das Tal verließen, wurde mir besser. Das Schwindelgefühl ließ nach. Die Erde wurde wieder fest, bodenfest und sicher tragend.

Bald hatten wir den Weg auf der Höhe erreicht. Ich schaute zur gegenüberliegenden Seite. Vom Schleifbach und vom Tal war nichts zu sehen. Er war, als ob das Tal überhaupt nicht existierte. Zwischen dem geheimnisvollen Hügelzug und uns war gähnende Leere, ein graues Nichts, ein unendliches Meer von Nebeltränen - und doch waren wir durch dieses Tal geschritten.

Auf der anderen Seite sahen wir die Marmagener Strasse und Scheinwerferlichter von Autos. Dort war alles ganz normal. Der Mond stand nun wieder hell und rund am Himmel. Sterne funkelten. Immer mehr wurden sichtbar. Die Kinder versuchten, sie zu zählen, gaben aber schon bald lachend auf. "Tausend und Abertausend Millionen!" wurden sie sich über die Anzahl einig. Fröhlich ging es nach Hause. "Das war schauerlichschön, unheimlich, gespensterhaft", erzählten sie noch tagelang.

Auch mich beschäftigte der Abend noch lange. So ein Gefühl der Auflösung hatte ich noch nie gespürt. Beim nächsten Besuch beim Arzt erzählte ich von meinem abendlichen Schwindelgefühl. "Ich verschreibe Ihnen ein paar Kreislauftabletten", sagt er und zückte den Rezeptblock.

Ein halbes Jahr später. Wir saßen gemütlich bei einer Weihnachtsfeier zusammen. Der Nettersheimer Heimatforscher F. Jakob Schruff (s. In russischer Kriegsgefangenschaft) erzählte. Ich hörte ihm fasziniert zu. Er sprach leise, flüsterte fast: "Im Felsenmeer oberhalb des Rosentals habe ich einmal vor Weihnachten, zur Wintersonnenwende, eine ganze Nacht zugebracht. Was ich da erlebt habe, glaubt mir niemand." Erst nach wiederholtem Nachfragen berichtete er von einer wilden Schlacht zwischen Kelten und Römern, von einem chaotischen Getöse und Gedröhne, von vielen Toten auf beiden Seiten. "Ich habe es genau gesehen", betonte er, "und ich bin fest davon überzeugt, dass zur Römerzeit eine wichtige Schlacht hier bei Nettersheim stattgefunden hat - und dass die Seelen der gefallenen Krieger dort noch herumspuken." Ich glaubte es ihm. "Man muss nur zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein, dann kann man in die Vergangenheit zurückfinden", erklärte er mir. "Es gibt Menschen, die ein Gespür für längst vergessene Ereignisse und für magische Plätze haben", schloss er, "sie erleben etwas Geheimnisvolles, Unerklärbares, wissen aber nichts mit diesem seltsamen Empfinden anzufangen."

"Kreislauftabletten!" sagte ich. Als er mich erstaunt ansah, erzählte ich ihm von meinem Erlebnis im Schleifbachtal und dass es mir da ganz komisch gewesen sei. "Wann war das denn?" fragte er interessiert. "Im Juni", antwortete ich. "Vielleicht zur Sommersonnwende? Zum Sommeranfang?" fragte er weiter. Ich zuckte die Schultern. So genau wusste ich es nicht. Aber es konnte die Zeit des längsten Tages und der kürzesten Nacht gewesen sein. "Die Stelle, wo das passiert ist, müssen Sie mir einmal zeigen, ganz genau zeigen", sagte er schließlich.

Einige Tage später gingen wir ins Schleifbachtal. Jetzt, am helllichten Tag, hatte das Tal gar nichts Geheimnisvolles. Ich deutete auf den Hügelhang, der mir so verzaubert erschienen war. Auch jetzt spürte ich eine mystische Anziehungskraft. Mein Begleiter sagte nichts, nickte nur mehrmals vielsagend.

Erst später, bei ihm zu Hause, berichtete er mir von dem Matronentempel, den man im Jahre 1909 auf dem Hügelhang, der sogenannten Görresburg, freigelegt hatte, über den man dann aber im wahrsten Sinne des Wortes Gras hatte wachsen lassen. Nichts mehr war dort von einem antiken Bauwerk zu sehen. Und er berichtete von den gütigen Göttinnen, die so inbrünstig von den Einheimischen und den römischen Legionären verehrt wurden. "Was Sie da berührt hat, ist wohl klar", meinte er schmunzelnd. "Die Matronen. Die Göttinnen aus nebelhafter Zeit wollen wohl, dass Sie sich ein bisschen um sie kümmern." Er kramte in seinen Unterlagen und gab mir einige Berichte über die göttliche Triade.

Mein Interesse war geweckt und als 1976 der kleine Tempel in seinen Grundmauern wieder freigelegt und nachgebaut wurde, verfolgte ich alles mit großer Wissbegierde. Dass der Tempel der Matronae Aufaniae auf die Zeit der Sommersonnenwende ausgerichtet ist, entdeckte ich jedoch erst viele Jahre später.

"So war es", erkläre ich meinen Exkursionsteilnehmern. "Ich bin nicht zu den Matronen gekommen, die Matronen kamen zu mir - wohl zufällig." War ich rein zufällig zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen? Zu Sommerbeginn im Tal der wogenden Nebel, dort, wo Göttinnen einst das Land beschützten? Oder war alles doch kein Zufall?


Foto: Abendstimmung im Schleifbachtal von Diana Melzer-Peters.